Zusammenfassung
Der Artikel beschäftigt sich mit einer Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), die untersucht hat, wie viele Menschen von einem schweren Unfall in einem deutschen Kernkraftwerk betroffen wären. Den Ergebnissen der Studie nach müssten vor allem die Evakuierungszonen in Deutschland vergrößert werden, auch sollten weit mehr Menschen Jodtabletten schlucken als bisher vorgesehen ist. Die Strahlenschutzkommission (SSK) wird voraussichtlich entsprechend verschärfte Maßnahmen vorschlagen. Diese werden im Beitrag sachlich und ausführlich vorgestellt.
Das Thema ist hoch interessant und relevant; allerdings macht der Artikel nicht ausreichend klar, wie das BfS zu seinen Einschätzungen gekommen ist. Auch die Kosten, die durch neue Notfallpläne entstehen, berücksichtigt der Beitrag nicht. Eine etwas hölzerne, zum Teil fast im Behördenjargon gehaltene Sprache erschwert in einigen Passagen das Verständnis des Textes.
Hinweis: Unser Gutachten bezieht sich auf die Originalfassung des Artikels vom
Umweltjournalistische Kriterien
1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.
Der Beitrag beschreibt die nötigen Evakuierungs- und Umsiedlungsmaßnahmen ohne emotionale Zuspitzung. Basis hierfür ist die vorliegende Studie „Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kernkraftwerke basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima“ des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Der Artikel schürt dabei weder Panik, noch verharmlost er das Problem eines schweren Atomunfalls.
2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.
Vor allem aber erfahren Leserinnen und Leser fast nichts darüber, wie die SSK zu ihrer neuen Einschätzung kommt. Lediglich das Wort „Berechnungen“ taucht auf. In der Studie selbst ist die – tatsächlich komplizierte – Methodik ausführlich erläutert. Diese kann ein Zeitungsartikel sicher nicht im Detail wiedergeben. Es wäre aber wichtig gewesen zu erfahren, dass es sich um Simulationen handelt, die aufgrund konkret gemessener Wetterdaten gemacht wurden. Erst am Ende des Artikels und im Zusammenhang mit dem Thema „langfristige Umsiedlungen“ ist beiläufig von der „Simulation eines Unfalls“ die Rede. Insgesamt aber wird nicht hinreichend deutlich, warum das Bundesamt für Strahlenschutz und in der Folge auch Experten der SSK zu anderen Einschätzungen kommen als bisher. Wir werden knapp „nicht erfüllt“.
3.EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.
Zitiert wird der SSK-Vorsitzende Wolfgang-Ulrich Müller, der an der Universität Essen in der Strahlenmedizin tätig ist. Interessenkonflikte werden nicht angegeben, sind für uns aber auch nicht ersichtlich. Der ebenfalls zitierte Jochen Stay wird als Sprecher des Anti-Atomnetzwerks „Ausgestrahlt“ vorgestellt und ist somit als Interessenvertreter erkennbar.
4.PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.
Die Ergebnisse der Studie des BfS werden genannt, wenn auch wichtige Fragen offen bleiben. So wird nicht klar, ob es sinnvoll wäre, eine 20-Kilometer-Zone statt einer 10-Kilometer-Zone schnell und womöglich dauerhaft zu evakuieren. Die BfS-Studie zeigt gerade, dass es stark von der Windrichtung und den geographischen Gegebenheiten abhängt, wie sich die Strahlung ausbreitet. Offen bleibt, welche anderen Positionen es noch gibt: Was spricht möglicherweise gegen eine Ausweitung der Evakuierungszonen? Wieso macht sich nur Deutschland „Gedanken in diese Richtung“? Wie kamen die bisherigen Evakuierungs-Regeln zustande?
Unklar bleiben auch die offenbar bestehenden Konflikte innerhalb der SSK. Hierzu heißt es nur vage: „Beim letzten Plenum hatte es dagegen noch Widerspruch gegeben“. Welche Argumente wurden dabei angeführt? Und welche „radiologischen Grundlagen“ lagen noch nicht vor und führten zur Verzögerung des SSK-Beschlusses?
Auch hätten die Überlegungen des BfS zu einer differenzierteren Notfallvorsorge für eine Vielzahl von Behörden und Verantwortlichen große Auswirkungen. Hierzu wäre es – bei allem beschränkten Platz – womöglich interessant gewesen, eine Stellungnahme der kommunalen Seite (Gemeindetag/Städtetag, oder ein konkret betroffener Landkreis) einzuholen, die sich auf neue Vorgaben einstellen müsste (siehe auch Kriterium 10).
5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.
6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.
7. Der Beitrag nennt – wo möglich – LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.
8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.
Exemplarisch wird die Situation um das AKW Philippsburg genannt: „In der BfS-Simulation eines Unfalls im AKW Philippsburg müssten laut ‚Ausgestrahlt‘ je nach Eingreifwert von 100, 50 oder 20 mSv Gebiete im Umkreis von bis zu 25, 52 oder 170 Kilometern dauerhaft geräumt werden.“ Letzteres ist allerdings nicht ganz korrekt und wurde offenbar ohne Prüfung aus der Pressemitteilung übernommen. Die Studie verlangt keine Evakuierung „im Umkreis“ von 170 km, sondern errechnet, dass der Wert von 20 Millisievert bis zu einer maximalen Entfernung von 80 Kilometern überschritten wird, und stellt eine „Richtwert-Überschreitung zusätzlich in einem isolierten Gebiet 110-170 km vom KKW entfernt“ fest.
Insgesamt hat die Studie ergeben, dass die Strahlenbelastung rund um ein AKW sehr unterschiedlich sein kann – eine Erfahrung, die um Fukushima auch schon gemacht wurde: Es gibt Gebiete, die näher am Unfallort liegen, aber weniger radioaktiv belastet sind als Gebiete, die komplett außerhalb der betrachteten Notfallzone liegen. Die BfS-Studie beschreibt dies an zwei Beispielen sehr präzise. Diesen interessanten Aspekt der Studie erwähnt der Beitrag nicht.
Wir werten dennoch „knapp erfüllt“.
9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.
Die zeitliche Dimension spielt darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. So geht es um Szenarien, bei denen „wie im Fall Fukushima radioaktive Stoffe über einen längeren Zeitraum freigesetzt werden“. Es wird berichtet, wie schnell die entsprechenden Zonen evakuiert sein müssen (in 6 bzw. 24 Stunden), und dass „langfristige Umsiedelungen“ vorgeschrieben werden sollen. Allerdings bleibt dies recht abstrakt und technisch formuliert. So ist zwar von „Eingreifwerten“ die Rede, jedoch nicht davon, wie lange es voraussichtlich dauert, bis die Menschen in ihre Häuser zurückkehren dürfen bzw. ob dies überhaupt möglich ist.
10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT(z.B. KOSTEN) wird einbezogen.
Am Ende schlägt der Artikel zwar noch einen Bogen zur Energiewende, doch wirkt dieser sehr konstruiert. Der Zusammenhang dieses Aspekts mit dem Thema Evakuierung und Strahlenbelastung bleibt vage.
Allgemeinjournalistische Kriterien
1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)
Zwar liegt die Studie des Bundesamts für Strahlenschutz vom April 2012 (und eine Erweiterung des Themas im Jahresbericht des BfS 2012) schon länger vor. Doch da die Strahlenschutzkommission derzeit über eine Veränderung der Kriterien für den Notfallschutz diskutiert und eine Entscheidung ansteht, ist das Thema aktuell. Auch bleibt es trotz Atomausstieg bedeutsam, weil zum einen neun Atomkraftwerke weiterlaufen sollen (zum Teil bis zum Jahr 2022), und weil einige Grenzregionen zu Tschechien, Frankreich und Belgien ebenfalls nicht weit von Atomkraftwerken entfernt liegen. Unfälle sind selten, aber wenn sie eintreten mit sehr schwerwiegenden Auswirkungen verbunden. Die Frage, wie der Katastrophenschutz darauf vorbereitet ist, ist daher von hoher Relevanz.