Bewertet am 24. Oktober 2016
Veröffentlicht von: Stuttgarter Zeitung

Besser organisierte Müllabfuhr dank Chip an der Tonne – darüber berichtet die Stuttgarter Zeitung. Es werden dabei vor allem technisch-organisatorische Aspekte dargestellt, bezüglich des ökologischen Nutzens kann ein falscher Eindruck entstehen.

Zusammenfassung

Als „Tagesthema“ berichtet die Stuttgarter Zeitung auf einer ganzen Seite über das Vorhaben des städtische Entsorgungsbetriebs, alle Mülltonnen mit Chips auszustatten und so die Abläufe bei der Müllabfuhr zu optimieren. Neben einem längeren Bericht und Textkästen zum Stand der Dinge in den Nachbarkreisen wird auch ein Experte für Abfallwirtschaft von der Universität Stuttgart interviewt. Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes werden angesprochen, allerdings nicht näher erläutert. Ansonsten stehen vor allen die technischen Abläufe und die Vorteile für die Organisation der Müllabfuhr im Mittelpunkt der Berichterstattung. Es wird deutlich, dass es solche Systeme andernorts schon seit längerem gibt, nicht jedoch, wie verbreitet sie sind und warum sich manche Kommunen dagegen entscheiden. Im Interview erklärt der Experte, dass die Ausstattung der Müllbehälter mit Chips auch ökologische Vorteile – nämlich eine höhere Recyclingquote – zur Folge haben könnte, wenn Verbraucher, die weniger Restmüll produzieren, weniger für die Abfuhr zahlen müssen. Es fehlt jedoch die wesentliche Information, dass eine solche Änderung der Gebührenordnung in Stuttgart gar nicht vorgesehen ist, es hier also keinen Anreiz für mehr Recycling gibt. So entsteht der falsche Eindruck, dass das Vorhaben auch einen ökologischen Nutzen hat, damit sind die Vorteile übertrieben dargestellt.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Der Tenor in Bericht und Interview ist weitgehend sachlich. Den Weg zum „Mülleimer 2.0“ in der Überschrift des Berichts als „mühsam“ zu bezeichnen, ist dem finanziellen und organisatorischen Aufwand angemessen. Übertrieben finden wir jedoch die Hoffnungen dargestellt, die sich mit dem Stuttgarter Chip-System verbinden. In der Überschrift des Interviews mit dem Abfallwirtschaftsexperten Martin Kranert heißt es „Das kann ein starker Anreiz für Recycling sein“, im weiteren Textverlauf: „Es ist dann eine sinnvolle Maßnahme, wenn man hierdurch eine verursachergerechte Gebührengestaltung hinbekommt“, mit der Begründung, dass „dann Bio- und Papiertonne oder der Gelbe Sack besser genutzt (werden)“. Ein solches „verursachergerechtes“ Gebührensystem, das sich an der Häufigkeit der jeweils erfolgten Leerungen orientiert, ist für Stuttgart indes gar nicht vorgesehen, wie Recherchen des Medien-Doktors ergaben. Da diese wichtige Information auf der Themenseite fehlt, werden hier Vorteile dargestellt, die im konkreten Fall nicht gegeben sind.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Im Text werden nur wenige Zahlen genannt, v.a. zur Zahl der Müllbehälter und der Chips. Knapp kalkuliert erscheinen uns die Angaben zu den Kosten – siehe dazu Kriterium 10. Zur Einschätzung des Experten im Interview, eine verursachergerechte Gebührenordnung könne die Restmüllmenge reduzieren, wären genauere Informationen möglich gewesen, wie sie das Umweltbundesamt bereitstellt: „Erfahrungen besagen, dass eine Verringerung der Restabfallmenge um 20 bis über 50% erwartet werden kann.“

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ/ INTERESSENKONFLIKTE: Die Quellen für Tatsachenbehauptungen und Einschätzungen werden benannt, Abhängigkeiten und Interessenlagen deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Es sind mehrere Quellen einbezogen (Abfallwirtschaft Stuttgart mit Zitaten einer Sprecherin, Mitarbeiterin des Landesbeauftragten für Datenschutz, Inhaber des Lehrstuhls für Abfallwirtschaft an der Uni Stuttgart), die meist klar benannt sind.
Der Interviewpartner Martin Kranert wird als „Inhaber des Lehrstuhls für Abfallwirtschaft und Abluft an der Universität Stuttgart“ mit seinen Forschungsschwerpunkten (u.a. „kommunale und betriebliche Abfallwirtschaft“ / „Abfallmanagement“) ausführlich vorgestellt. Direkte Interessenskonflikte sind für uns nicht erkennbar. Erwähnenswert gewesen wäre aber, dass Kranert auch als Berater von Politik und Entsorgungsunternehmen tätig ist. Beispielsweise war er u.a. an der „Erarbeitung von Empfehlungen für eine nachhaltige Abfallwirtschaft“, und einer „Landesstrategie Ressourceneffizienz“ in Baden-Württemberg beteiligt und ist Mitglied im Kuratorium der „Entsorgergemeinschaft der Deutschen Entsorgungswirtschaft e.V.“. Stattdessen heißt es nur vage, dass sich Kranert auch „außerhalb der Hochschule engagiert“. Wir werten noch „knapp erfüllt“.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Beitrag stellt eher die positiven Erwartungen der Abfallwirtschaft Stuttgart in den Vordergrund, macht aber auch klar, dass es Bedenken gibt. So wird berichtet, dass es 11.000 Anrufe bei der Hotline gab, von denen zehn Prozent als Beschwerden gewertet wurden. Worüber die Bürger sich beschwerten, erfährt man allerdings nicht. Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes werden sowohl im Bericht als auch im Interview angesprochen, es wurde zu dieser Frage das Büro des Landesdatenschutzbeauftragten kontaktiert. Indes erfährt man nichts Inhaltliches zu möglichen Datenschutzproblemen. In einem Kasten wird darüber informiert, dass andere Gemeinden im Umkreis sich gegen die die Einführung eines Chip-Systems entschieden haben. Offen bleibt allerdings die Gründe für diese Entscheidung – hier wäre eine Nachfrage bei den Verantwortlichen interessant gewesen. Informationen zu den Nachteilen solcher Chipsysteme wären auch dem Datenblatt „Behälteridentifizierung” des Umweltbundesamts zu entnehmen gewesen.
Insgesamt werten wir „knapp nicht erfüllt“.

5. PRESSEMITTEILUNG Der Beitrag geht in seinem Informationsgehalt und in der Darstellungsweise deutlich über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus

Es liegen zwei knappe Pressemitteilungen der Abfallwirtschaft Stuttgart vor. Der Beitrag übernimmt daraus Argumente, die für das Chipsystem sprechen, geht aber in den Erläuterungen deutlich darüber hinaus und nutzt weitere Quellen. Auch mit dem Interview bietet die Themenseite weit mehr als die Pressemitteilungen.

6. NEUHEIT Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes beziehungsweise neu entdecktes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik oder einen neuartigen Vorschlag zur Lösung/ Regulierung o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Es wird klar, dass das Chip-basierte Müllabfuhr-System in Stuttgart neu eingeführt wird; zugleich wird zutreffend daraufhin hingewiesen, dass andere Kommunen „bereits vor ein paar Jahren die Mülltonne der Zukunft eingeführt“ haben. Aus dem Kasten „Wie machen es die Nachbarkreise?“ erfahren Leserinnen und Leser, dass Mülltonnen im Kreis Ludwigsburg „schon seit 20 Jahren“ Transponder tragen und ähnliche Behälter 2004 auch im Kreis Böblingen eingeführt wurden. Auch das Interview hinterlässt den Eindruck, dass es bereits Erfahrungen mit solchen Systemen gibt.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Bericht und Interview beschäftigten sich mit möglichen Lösungen für unterschiedliche Problemen. Zum einen soll es durch ein Chip-System möglich werden, „Schwarzbehältern“ auf die Spur zu kommen. Dies erscheint plausibel, doch lässt der Text offen, ob sich der technische und finanzielle Aufwand in dieser Hinsicht lohnt.
Zum anderen äußert der Abfallexperte Kranert aus ökologischer Perspektive die Hoffnung, dass solche Chip-Systeme einen „starken Anreiz“ für mehr Recycling bedeuten könnten. Er verweist außerdem auf einen geringeren Sammelaufwand, „weil beispielsweise nicht zweimal ein halb voller Behälter, sondern nur einmal ein voller entleert werden muss“. Beides gilt jedoch nur unter der Voraussetzung einer „verursachergerechten Gebührengestaltung“, wie sie für Stuttgart gar nicht vorgesehen ist ( siehe dazu auch Kriterium 1). Es entsteht der falsche Eindruck, dass diese Option auch in Stuttgart zum Tragen kommt. Wir werten daher „knapp nicht erfüllt“.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/ regional /global) wird dargestellt.

Der Themenseite ist zwar zu entnehmen, dass Chip-Systeme für die Müllabfuhr auch schon in anderen Kommunen eingeführt wurden (s. Kasten „Wie machen es die Nachbarkreise?“). Doch Beispiele aus anderen Bundesländern, der Bundesebene oder dem Ausland bleiben ausgespart. Die Themenseite vermittelt keine Vorstellung, wie weit die Technik bereits verbreitet ist. Ein Sachstandsbericht sprach schon 2009 von „etwa 30 % aller bundesdeutschen Haushalte“, die mit bechippten Mülltonnen ausgestattet seien. Siehe: „RFID in der Kreislaufwirtschaft – Tatsachen und Prognosen“ (Kap. 4), in: „Mit RFID zur innovativen Kreislaufwirtschaft“, Schriftenreihe des Fachgebietes Abfalltechnik Bd. 10, Kassel 2009, S. 161 ff. (S. 166)

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Die wesentlichen Eckdaten zur Einführung des Systems in Stuttgart werden benannt: Einführung bis Ende des Jahres, erwartete Amortisierung in drei bis fünf Jahren, Beginn Frühjahr 2017. Mit der Interviewfrage 3, ob kleinere Entsorgungsunternehmen „langfristig vom Markt“ verschwinden könnten, wird ein Blick in die Zukunft geworfen. Auch die Frage 5 thematisiert die künftige Entwicklung: Der Experte Kranert erörtert die Möglichkeit, dass sich eine Mülltonne der Zukunft „über eine automatische Füllstandsanzeige“ mit dem Entsorger in Verbindung setzen könnte und erklärt, dass es entsprechende Prototypen für größere Container auch schon gebe.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Es wird aus Text und Interview deutlich, dass es hier um hohe Investitionen geht, genannt werden 1,4 Millionen Euro. Dies scheint im Vergleich zu Angaben des Umweltbundesamtes knapp kalkuliert. Diesen zufolge käme man bei 238.000 Mülltonnen schon allein für die Ausstattung mit Chips auf mehr als 1,3 Mio. Euro. Hinzu kommen die Kosten für die Umrüstung der Müllfahrzeuge und Umstellungen in der Verwaltung, um die Daten der Chips auslesen, transferieren und auswerten zu können. Siehe dazu die „Informationssammlung: Best Practice Municipal Waste Management” des Umweltbundesamts vom 18.6.2014 – Datenblatt WC/P-05_WBI – “Behälteridentifizierung”, S. 4; Download Datenblatt. Daher wäre eine kritische Nachfrage angebracht gewesen, ob es bei der geplanten Investitionssumme bleiben wird.

Insgesamt dominiert die technische Perspektive. Was Bürger davon halten, wird nur über den Aspekt des Datenschutzes angesprochen, wobei nicht deutlich wird, um welche Befürchtungen es konkret geht. Auch die Perspektive der Beschäftigten fehlt: Die EDV-gestützte Kontrolle der Müllabfuhr erlaubt nicht nur eine punktgenaue Erfassung von Abfallströmen, sondern auch eine minuten- und metergenaue Kontrolle der Mitarbeiter, da alle Daten in Echtzeit an die Einsatzzentrale übertragen werden können.

Wenn auch sicher nicht alle diese Punkte aufgenommen werden können, hätten wir doch im Rahmen einer ganzen Themenseite einen etwas weiteren Blick über die technisch-organisatorischen Aspekte des Themas hinaus erwartet.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Die Einführung eines solchen Chip-Systems ist für die Regionalpresse zweifellos ein relevantes Thema, wie auch rund 11.000 Anrufen bei der Hotline deutlich machen. Insofern ist eine größere Berichterstattung in Form eines ganzseitigen Tagesthemas (Text, Kästen, Interview) gerechtfertigt. Warum die Themenseite erst Ende September erscheint, ist nicht ersichtlich (Die Ausstattung von Mülltonnen mit Chips war für den Zeitraum zwischen dem 25. April und 30. Juli anberaumt und Ende Juli zu fast 90 Prozent abgeschlossen. Es heißt „im August“ hätten mehr als zehn Prozent noch keinen Chip gehabt.) Trotzdem kann eine Regionalzeitung davon ausgehen, dass das Thema bei den Lesern immer noch auf Interesse stößt, auch mit Blick darauf, dass das System erst im nächsten Jahr „scharf gestellt“ werden soll.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Die Texte der Themenseite enthalten viele Fachwörter („bechippt“, „Nachleerungen“) und Floskeln („Herkulesaufgabe). Es werden unnötigen Fachausdrücke verwendet, die dann sperrig erklärt werden, z.B. „Schwarzbehälter“ => Mülltonnen, „für die keine Gebühr entrichtet wird oder die vom Bürger unerlaubterweise mehrfach bereitgestellt werden“. Wenig geschickt erscheint auch der Einstieg ins Interview mit der Frage, ob sich der Aufwand „für Entsorgungsunternehmen“ lohne. Die Frage, was das System für die Bürger und für die Umwelt bringt, wäre für Zeitungsleser vermutlich interessanter. Der Experte antwortet hier aber auch gar nicht auf die ihm gestellte Frage. Er wechselt die Ebene, indem er auf die Frage der Gebühren-Gerechtigkeit eingeht und das System unter der Bedingung einer „funktionierende(n) verursachergerechte(n) Gebührengestaltung“) für sinnvoll erklärt, ohne dass erläutert würde, was darunter zu verstehen ist. Hierzu gibt es keine Nachfrage. Auffallend ist die gestelzte und sperrige Sprache bei den Interviewfragen („Der Entsorgungssektor stand zumindest für den Kunden bislang nicht im Fokus von Digitalisierungsstrategien.“).

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Offenkundige Faktenfehler haben wir nicht gefunden. Zu unserer Skepsis bei den angegebenen Kosten siehe umweltjournalistisches Kriterium 10.

Umweltjournalistische Kriterien:  von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar