Bewertet am 4. April 2016
Veröffentlicht von: Hamburger Abendblatt

Die Bestände von Schmetterlingen und vielen Brutvögeln sind in Hamburg zurückgegangen, berichtet das Hamburger Abendblatt und zitiert dazu Angaben des Nabu. Auf welche Zeiträume sich die genannten Zahlen beziehen, wird dabei nicht immer klar, ebensowenig, warum Wissenschaftler von einem „neuartigen Insektensterben“ sprechen.

Zusammenfassung

Der Beitrag im Hamburger Abendblatt beschreibt anhand einer Reihe von Beispielen den Rückgang von Schmetterlingen und Brutvögeln in Hamburg. Anlass der Berichterstattung ist offenbar eine Veranstaltung des Naturschutzverbandes Nabu (Naturschutzbund Deutschland). Der Artikel stützt sich praktisch ausschließlich auf Angaben des Hamburger Nabu, ohne dies ausreichend deutlich zu machen. Wie die genannten Zahlen erhoben wurden, von wem oder in wessen Auftrag, erfahren Leserinnen und Leser nicht. Neben dem Hamburger Nabu-Vorsitzenden werden weitere Experten zitiert, über deren Funktion und Zuordnung zu Institutionen der Artikel jedoch nicht informiert. Zeitliche Zusammenhänge werden nur zum Teil erläutert, in mehreren Fällen bleibt unklar bzw. grob missverständlich, auf welchen Zeitraum sich die Angaben zum Artenrückgang beziehen. Ursachen der Entwicklung – und damit verbunden auch mögliche Handlungsoptionen – erwähnt der Artikel knapp, aber noch ausreichend, wirtschaftliche Aspekte spricht er gar nicht an.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Der Text stellt den Rückgang verschiedener Arten von Schmetterlingen und Vögeln, speziell Bodenbrütern, in Hamburg dar. Dabei gibt er relativ nüchtern den Stand der Dinge wieder, ohne zu übertreiben oder zu verharmlosen. Es wird berichtet, wie stark der Bestand einzelner Arten in der Stadt abgenommen hat; doch der Text macht am Ende deutlich, dass es speziell in den Randgebieten auch positive Entwicklungen gibt. Einzig die Darstellung zu den Bienen am Anfang finden wir etwas unbegründet optimistisch – es klingt, als ob diese aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung nicht gefährdet seien. Weder trifft dies zu, noch ist die Bestäubung durch andere Arten ökonomisch bedeutungslos (siehe z.B hier) Da dies jedoch nur einen Randaspekt darstellt, werten wir insgesamt „erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Beitrag nennt eine Reihe von Zahlen, um den Rückgang der genannten Arten zu belegen, teils in absoluten Werten, teils wird die relative Entwicklung der Zahlen angeführt. Doch bleibt dabei offen, wie und von wem diese erhoben wurden. Handelt es sich um Zählungen? Schätzungen? Einzelne Befunde oder längerfristige Monitoring-Ergebnisse? Sind die verschiedenen Angaben überhaupt untereinander vergleichbar? Da solche Informationen fehlen, sind die Angaben für Leserinnen und Leser schwer einzuordnen.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Abhängigkeiten deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Die meisten Angaben stammen offensichtlich aus einer Information des Nabu, das wird aber nicht hinreichend deutlich. Sie werden ohne weitere Quellenangabe als Tatsachen vorgestellt. Zu den Rückgängen der Bestände von Braunkehlchen, Uferschnepfe und Rebhuhn ist überhaupt keine Quelle angegeben.
Der Beitrag zitiert drei Experten, die ebenfalls alle in der NABU-Information angeführt werden. Dabei ist im Artikel nur Alexander Porschke als Vorsitzender des Nabu Hamburg klar zugordnet. Es bleibt völlig unklar, in wessen Auftrag der „Biologe und Insektenforscher Frank Röbbelen“ tätig ist. Das gleiche gilt für Alexander Mitschke, dessen Name ohne jegliche Erläuterung auftaucht. Informationen aus weiteren, unabhängigen Quellen, die nicht aus dem Umfeld des Nabu stammen, enthält der Beitrag nicht.

4. PRO UND CONTRA: Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

Zum Rückgang von Vogel- und Insektenarten in der Agrarlandschaft gibt es kaum eine Kontroverse, eine Diskussion pro und contra Artenschwund, über die zu berichten gewesen wäre, wird nicht geführt. Allenfalls über die Ursachen könnte man diskutieren, aber da hier in erster Linie die Zahlen referiert werden und Gegenmaßnahmen nur kurz erwähnt werden, ohne diesen Punkt zu vertiefen, wenden wir das Kriterium nicht an. 

5. PRESSEMITTEILUNG: Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung / das Pressematerial hinaus.

Der Beitrag ist zu großen Teilen eine umformulierte Mitteilung des Nabu, weitere Experten und Quellen werden nicht benannt. Indes enthält der Artikel einige zusätzliche Zitate und am Ende tauchen auch einige Zahlen zum Rückgang von Vogelbeständen auf, die nicht in der Nabu-Mitteilung stehen. Ob diese bei der Nabu-Veranstaltung genannt wurden, ist für uns nicht zu überprüfen. Daher werten wir noch „knapp erfüllt“.

6. ALT oder NEU: Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Es wird einerseits klar, dass der beschriebene Artenrückgang nicht vollständig neu ist (z.B. Rückgang der Schmetterlingsarten in Hamburg in den letzten 120 Jahren um die Hälfte), andererseits berichtet der Beitrag von einer neuen Entwicklung („Wir stehen vor einem neuartigen Insektensterben.“). Dabei wird jedoch nicht deutlich, seit wann dieses zu beobachten ist, und worin die neue Qualität besteht. Wir werten daher „knapp nicht erfüllt“.

7. LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN / kein „Greenwashing“: Der Beitrag nennt Wege, um ein Umweltproblem zu lösen, soweit dies möglich und angebracht ist.

Der Beitrag erwähnt, wenn auch knapp, mehrere Möglichkeiten, das Artensterben zu bremsen (z.B. veränderte Mahdzeitpunkte). Auch mit der Benennung von Ursachen (Überdüngung, Einsatz von Pestiziden, zu niedrige Wasserstände, Rodung von Knicks (Wallhecken)) spricht der Artikel zumindest indirekt Handlungsoptionen an. Allerdings wird nicht herausgearbeitet, weshalb das alles geschieht, wer verantwortlich ist und wie (auch wirtschaftlich) realistische Lösungen aussehen könnten. Hier hätte es sich beispielsweise angeboten, die Hamburger Umweltbehörde zu befragen, welche Möglichkeiten sie sieht, der Entwicklung entgegenzuwirken. Das im Beitrag erwähnte Monitoring wird zwar als Lösungsansatz vorgestellt („damit es in Hamburg nicht soweit kommt“), tatsächlich bewirkt aber ein Monitoring allein noch kein Verbesserungen. Wir werten insgesamt nur „knapp erfüllt“.

8. RÄUMLICHE DIMENSION (lokal / regional / global): Die räumlichen Dimensionen eines Umweltthemas werden dargestellt.

Der Text befasst sich mit dem Artenrückgang in Hamburg. Auch wenn dies für eine Lokalzeitung durchaus angemessen ist, wäre doch eine zumindest kurze Einordnung in die deutschen und europäischen bzw. weltweiten Probleme zu erwarten. Diese fehlt jedoch fast völlig. Wo Bezüge zu anderen Regionen hergestellt werden (Rückgang der Insekten in Nordrhein-Westfalen oder die Feststellung „dass es den Hamburger Vögeln im Vergleich besser geht, als ihren Artgenossen bundesweit“), bleibt der Beitrag äußerst vage und nennt keinerlei konkrete Vergleichszahlen.

9. ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit): Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

Zwar werden in Artikel einige Jahreszahlen-Vergleiche genannt – mal bezogen auf die letzten 120 Jahre, mal auf den Zeitraum seit dem Jahr 2000. Aber ob sich der Rückgang der Bestände von Schmetterlingen und Vögeln in Hamburg in den letzten Jahren stark beschleunigt hat, oder seit Jahrzehnten etwa gleich schnell voranschreitet, erfährt man dabei nicht. Bei den Zahlen zu Rebhühnern, Uferschnepfen und Braunkehlchen ist völlig unklar, auf welchen Zeitraum sich der prozentual angegebene Schwund bezieht. Ebensowenig erfahren Leserinnen und Leser, in welchem Zeitraum die Fluginsekten in NRW um 80 Prozent abgenommen haben sollen. Aufgrund der vorausgehenden Passage nimmt man an, dass es um die vergangenen 120 Jahre geht, laut Nabu-Information bezieht sich die Zahl jedoch auf die letzten 15 Jahre (siehe auch Kriterium Faktentreue).
Interessant wäre außerdem gewesen, wie schnell sich lokale Populationen regenerieren könnten, wenn beispielsweise der Pestizideinsatz zurückginge, oder in den Parks, wie vorgeschlagen, zeitversetzt gemäht würde.

10. KONTEXT / KOSTEN: Es werden politische, soziale oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Der Beitrag geht kaum auf wirtschaftliche Fragen ein, die das Thema nahelegt. So werden als Ursache für den Rückgang von Bodenbrütern richtigerweise niedrige Wasserstände genannt. Diese ermöglichen aber auch landwirtschaftliche Bewirtschaftung. Wiedervernässung ist oft ökologisch sinnvoll – doch mit welchen Einbußen (bzw. Ausgleichszahlungen) für die Landwirtschaft wäre zu rechnen? Wie hängt der Biodiversitätsverlust in der Landwirtschaft mit der immensen Ertragssteigerung zusammen? Was würden differenzierte Mahd-Zeitpunkte in den Parks kosten? All das wird nicht thematisiert. Auch die Frage des Nutzens von Schmetterlingen als Bestäuber bleibt ausgeklammert.
Ein wichtiger Aspekt des Problems kommt nur verklausuliert in einem Zitat vor, wo von „dieser Zeit der Grünverluste“ die Rede ist. Hier wäre es sinnvoll gewesen, Flächenverbrauch und -versiegelung in Hamburg anzusprechen, und dazu zumindest exemplarisch Zahlen zu nennen.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. THEMENAUSWAH: Das Thema ist aktuell, oder auch unabhängig von aktuellen Anlässen relevant oder originell.

Das Insektensterben und der Artenrückgang in der Agrarlandschaft sind ein relevantes Thema, das in letzter Zeit u.a. im Zusammenhang mit der Glyphosat-Kontroverse viel diskutiert wurde. Mit der Veranstaltung des Nabu und dem beginnenden Monitoring-Projekt in Hamburg gibt es aktuelle Anlässe für die Berichterstattung in einer Lokalzeitung.

2. VERMITTLUNG: Komplexe Umweltzusammenhänge werden verständlich gemacht.

Der Beitrag stützt sich fast ausschließlich auf eine Information (bzw. eine Veranstaltung) des Nabu. Darin genannte Zahlen und Zusammenhänge werden z.T. falsch oder missverständlich wiedergegeben (siehe umweltjournalistisches Kriterium 9 und Kriterium Faktentreue). Weitere unabhängige Recherchen und eine eigenständige journalistische Leistung sind nicht erkennbar.
Die einzelnen Informationen stehen zudem recht beziehungslos nebeneinander, eine Dramaturgie oder ein Spannungsbogen fehlen. Die als Einstieg genannten Bienen kommen im Verlauf des Textes nicht mehr vor. Warum es im Weiteren gerade um Schmetterlinge und Bodenbrüter geht, erschließt sich zunächst nicht; erst in der zweiten Hälfte des Textes wird klar, dass diese Auswahl offenbar vom Nabu getroffen wurde.
Manche Formulierung erscheint etwas ungeschickt, so etwa, dass es in der Veranstaltungsreihe um eine Bestandsaufnahme gehe. Veranstaltungen können wohl allenfalls über solche Bestandsaufnahmen informieren. Seltsam auch die Aussage, vorhandene Informationen seien, da weit verteilt, „schwer zu bestimmen“. Am Ende steht unvermutet ein „Hoffnungsschimmer“, doch bleibt angesichts der vorher genannten Probleme völlig rätselhaft, warum es Vögeln in einer Großstadt besser geht, als im Bundesgebiet insgesamt.

3. FAKTENTREUE: Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder.

Der Beitrag enthält diverse Ungenauigkeiten:
1) In der Information des Nabu heißt es eher vage, die Bodenbrüter seien je nach Art „um 50 Prozent und mehr“ zurückgegangen, bei einer erwähnten Art sind es indes nur 40 Prozent. Im Artikel wird daraus pauschal „mehr als 50 Prozent“.
2) In NRW ist laut Nabu die Biomasse der Insekten um 80 Prozent zurückgegangen, im Artikel wird daraus die Population – das wäre dann aber die Zahl der Individuen. Zudem bezieht sich der Begriff Population in der Biologie stets auf eine Art, er kann daher nicht für „Fluginsekten“ insgesamt verwendet werden.
3) Laut Nabu ist die Hälfte der Tagfalter ausgestorben, im Artikel werden daraus alle Schmetterlingsarten.
Auch wenn es sich jeweils um kleinere Fehler handelt, finden wir eine solche Häufung bedenklich.

Umweltjournalistische Kriterien: 3 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 1 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar