Bewertet am 28. September 2015
Veröffentlicht von: Hamburger Abendblatt

Je stärker das Eis in der Arktis zurückgeht, desto mehr schneit es womöglich in Sibirien. Das Hamburger Abendblatt stellt eine Studie vor, die diesen Zusammenhang untersucht. Allerdings ist die Studie beim Erscheinen des Artikels schon fünf Monate alt.

Zusammenfassung

Der Artikel im Hamburger Abendblatt stellt in nüchterner Sprache einen Sachverhalt dar, der Laien zunächst paradox erscheinen mag: Er beschreibt eine Studie, die untersucht hat, wie weniger Meereis in der Arktis womöglich zu mehr Schnee in anderen Regionen führen kann. Es wurde offenbar mit dem leitenden Wissenschaftler gesprochen, der Text beruht nicht auf einer Pressemitteilung. Dabei bleibt der gut verständliche Beitrag weitgehend auf der beschreibenden Ebene, die zugrundeliegenden Mechanismen erläutert er nur oberflächlich. Dass diese Klima-Zusammenhänge schon seit längerem erforscht werden, erfahren Leserinnen und Leser nicht; eine Einordnung in den Stand der wissenschaftliche Diskussion durch eine zweite Quelle fehlt. Das methodische Vorgehen der Forscher bei der Studie wird angesprochen, allerdings nur unvollständig erklärt – dass neben Messungen auch Modellrechnungen dazu gehörten, erwähnt der Beitrag nicht.

Ein Hinweis am Beginn des Textes auf Zusammenhänge mit dem Wetter in Europa ist geeignet, das Thema für Leserinnen und Leser interessant zu machen – doch werden die geweckten Erwartungen am Ende nur teilweise eingelöst: Der letzte Absatz greift diesen Aspekt zwar auf, erklärt ihn aber nicht wirklich verständlich.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Beitrag beschreibt mittelbare Effekte der Erderwärmung – weniger Eis in der Arktis kann zu verstärkten Schneefällen in Teilen Russlands führen. Dass damit Probleme verbunden sind, wird durch den Verweis auf ähnliche Rekordschneefälle an der Ostküste der USA angedeutet. Dabei bleibt die Darstellung sachlich und unaufgeregt.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Beitrag gibt in vereinfachter Form die Ergebnisse der Studie wieder und macht dabei auch knappe Angaben zum methodischen Vorgehen: Es wurden die „Daten von über 800 Wetterstationen in Russland ausgewertet“, Russland sei gewählt worden, weil für dieses Land besonders viele Daten vorlägen. Es wäre gut gewesen, auch darauf einzugehen, dass für die Analyse die Messdaten mit einem komplexen Modell kombiniert wurden – das wird aus dem Text nicht klar.
Problematisch finden wir die wiederholte Formulierung, Forscher hätten bestimmte Zusammenhänge „bewiesen“ – das klingt, als seien die Ergebnisse über jeden Zweifel erhaben; Die Wissenschaftler selbst machen dagegen klar, dass Ihre Ergebnisse Teil eines wissenschaftlichen Prozesses sind („…the mechanism connecting snow cover in Eurasia to sea-ice-decline in autumn is still under debate.“), und machen auf die Grenzen ihrer Studie aufmerksam („Although small in sample size, our results indicate…“). Angesichts dessen, dass es sich um einen relativ kurzen Beitrag mit wenig Raum für methodische Erläuterungen handelt, werten wir dennoch „knapp erfüllt“.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Die zugrundeliegende Studie ist anhand der Angaben im Artikel zu identifizieren, wenn auch eine konkrete Quellenangabe fehlt. Schön wäre hier – zumindest in der Online-Version des Artikels – eine Angabe des Links zur frei zugänglichen Originalveröffentlichung gewesen.
Das Oeschger-Zentrum ist eine interdisziplinäre Einrichtung der Uni Bern, besondere Interessenkonflikte sind für uns nicht erkennbar und müssten demnach auch nicht thematisiert werden. Kritikwürdig finden wir dagegen, dass nur der Hauptautor der Studie zu Wort kommt und keine zweite Quelle herangezogen wird, um die Ergebnisse einzuordnen. Dabei wurde, wie auch der vorliegenden Studie zu entnehmen ist, in den vergangenen Jahren viel über ähnliche Prozesse diskutiert, etwa über den Einfluss der warmen Arktis auf den Jet Stream und die Auswirkungen auf das Wetter in Europa und Nordamerika.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Zwar gibt es eine wissenschaftliche Debatte zu den genauen Mechanismen und konkreten Folgen der Arktis-Erwärmung für Asien und Europa; aber eine grundsätzliche Kontroverse über die normale wissenschaftliche Diskussion (die diesen kurzen Text überfrachtet hätte) hinaus sehen wir nicht, darum wenden wir das Kriterium nicht an.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Eine Pressemitteilung zu der Studie haben wir nicht gefunden, allerdings einen Text auf environmentalresearchweb (Link nicht mehr verfügbar). Der Beitrag geht aber über diese Informationen hinaus, z.B. mit Zitaten des Erstautors der Studie (vermutlich wurde mit dem leitenden Wissenschaftler gesprochen), oder durch den Vergleich zu Rekordschneefällen in den USA.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Der Beitrag erwähnt nicht, dass mögliche Schnee-Effekte der arktischen Erwärmung schon seit Jahren diskutiert werden; was die aktuelle Studie hier Neues beiträgt, wird nicht klar genug gemacht und nicht in den Kontext bisheriger Erkenntnisse gestellt. Auch andere Forscher haben schon die vergleichsweise erstaunlich kühlen Winter auf der Nordhalbkugel auf Schnee-Effekte zurückgeführt (siehe z.B. hier). Zwar ist die vorausgehende Forschung in diesem Rahmen sicher nicht umfassend darzustellen, doch es hätte zumindest erwähnt werden sollen, dass es sich um ein seit längerem diskutiertes und erforschtes Phänomen handelt, zu dem jetzt neue Erkenntnisse vorliegen.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Außer allgemeinen Maßnahmen gegen den Klimawandel sind hier keine Lösungsvorschläge denkbar. In diesem Text geht es speziell um den Zusammenhang zwischen Arktis-Eis und Schneefall-Mengen, und dagegen lässt sich kaum etwas tun. Wir wenden das Kriterium daher nicht an.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/ regional /global) wird dargestellt.

Streng genommen konzentriert sich die Studie auf Südwest-Sibirien und das Eis in der Barents-/Kara-See Region, während im Text nur von „Arktis“ und „Sibirien“ die Rede ist. Doch zumindest in groben Zügen wird klar, um welche Regionen und Reichweiten es geht, und wie großräumig sich das Schwinden des Meereises auswirkt. Die Auswirkungen der geringeren Eisbedeckung auf Europa, die am Ende des Artikels angesprochen werden, hätten indes verständlicher beschrieben werden können (siehe allgemeinjournalistisches Kriterium 2, Darstellung).

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Der Artikel nennt den Untersuchungszeitraum (1979 – 2012). Auch wird klar, dass die Eisbedeckung der Arktis im Spätsommer sich auf den nachfolgenden Winter auswirkt. Zusätzlich interessant wäre es gewesen, auf die (düsteren) Prognosen für das Eis in der Arktis hinzuweisen. Fehlerhaft wird der bisherige Rückgang des Eises in der Arktis dargestellt (siehe allgemeinjournalistisches Kriterium 3, Faktentreue). Wir werten noch „knapp erfüllt“.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Zwar wird knapp auf die vergleichbar starken Schneefälle in Nordamerika verwiesen, die dort erhebliche Folgen für die Anwohner hatten („das öffentliche Leben kam weitestgehend zum Erliegen“). In diesem Fall es wäre aber wichtig gewesen, darüber zu informieren, wie sich verstärkte Schneefälle in den konkret betroffenen Regionen Sibiriens mit ihrer ganz anderen Infrastruktur auswirken könnten. Welche Folgen haben die Schneemassen für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft? Der Beitrag erwähnt solche Aspekte nicht einmal ansatzweise.
Problematisch finden wir, dass von einem nur „gefühlt“ kälteren Winter die Rede ist. Schneefall kann durch die Rückstrahl-Wirkung der Schneedecke tatsächlich eine kühlende Wirkung haben, daher wären z.B. für die Landwirtschaft auch solche Temperatureffekte interessant. Die zugrundeliegende Originalveröffentlichung spricht die Folgen für die Gesellschaft zumindest allgemein an („Such conditions have had a large impact on society and understanding the causes of such extreme events is therefore of large societal importance.“); anstatt zu diesem Punkt Genaueres zu recherchieren, greift der Zeitungsartikel diesen Aspekt gar nicht auf.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema Klimawandel und auch die spezielle Frage, wie sich das Schwinden des arktischen Meereises auf nördliche Festlandregionen auswirkt, ist zweifellos relevant. Allerdings bleibt unklar, warum über die Studie, die im Mai erschienen ist, erst im September berichtet wird. Immerhin wurde der Fachbeitrag damals schon vom Fachmagazin Nature und im Anschluss von anderen Medien aufgegriffen. Wenigstens ein Hinweis auf den zurückliegenden Rekordsommer, die aktuellen Eis-Verhältnisse oder Ähnliches wäre nötig gewesen, um einen aktuellen Bezug herzustellen. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Text ist offensichtlich bemüht, die komplexen Zusammenhänge aus der Studie zu vereinfachen. Dabei ist ein verständlicher Text entstanden. Er verzichtet auf Fachbegriffe und ist insgesamt leicht lesbar, an einigen Stellen allerdings sprachlich etwas holprig (z.B. „Die Wahl von Russland als Betrachtungsort“ müsste heißen „Die Wahl Russlands als …“, wobei „Betrachtungsort“ auch ein eigenartiger Begriff ist. „In dem Fall unserer Studie …“ müsste heißen „Im Fall unserer Studie“; häufiger Nominalstil).
Auch hätten wichtige Punkte, um die es in der Studie geht, besser erläutert werden können (so wird nicht klar, dass es die zusätzliche Verdunstung aus dem offenen, nicht von Eis bedeckten Meer ist, die unter anderem Schnee nach Sibirien bringen kann).
Im Prinzip sinnvoll finden wir die Bezugnahme auf die Auswirkungen auf Europa, die für hiesige Leserinnen und Leser sicher besonders interessant sind. Dieser Bezug wird am Ende des ersten Absatzes angekündigt, taucht dann aber erst im letzten Absatz wieder auf und ist dort nicht ausreichend erklärt: Was das arktische Eis mit dem Hochdruckgebiet zu tun hat, bleibt unverständlich. Tatsächlich könnte es laut der Studie offenbar einen Zusammenhang geben, durch Konvektion über der Arktis und Rückstrahleffekte des zusätzlichen Schnees in Sibirien. Der Artikel macht aber keinen Versuch, das zu erklären, so dass dieser letzte Absatz recht zusammenhanglos angefügt erscheint. Wir werten noch „knapp erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Der Artikel enthält einen wesentlichen Faktenfehler: „Seit Beginn der Satellitenmessungen 1980 hat die Ausdehnung des Meereises im Sommer in der Arktis um zehn Prozent abgenommen.“ heißt es. Tatsächlich aber ist das Eis seit 1980 nicht insgesamt sondern PRO DEKADE um zehn Prozent zurückgegangen, wie dem ersten Satz der zugrundeliegenden Studie zu entnehmen ist.

Umweltjournalistische Kriterien: 5 von 8 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar