Bewertet am 19. August 2015
Veröffentlicht von: Stuttgarter Zeitung

Wenn man schon per Flugzeug reisen müsse, lohne es sich für das Klima, die klimaschädlichen Folgen durch Kompensationszahlungen auszugleichen. So der Tenor eines Beitrags in der Stuttgarter Zeitung. Er bezieht sich dabei auf eine Publikation des Umweltbundesamts, macht aber nicht ausreichend deutlich, welche Kontroversen es um dieses Thema seit Jahren gibt.

Zusammenfassung

Der Artikel in der Stuttgarter Zeitung nimmt sich eines relevanten Themas an: Er berichtet anlässlich der Urlaubszeit über die hohen Treibhausgasemissionen des Luftverkehrs. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen freiwillige Ausgleichzahlungen, die die negativen Folgen für das Klima kompensieren sollen. Einzige Quelle ist ein schon einige Monate zurückliegender Bericht des Umweltbundesamts, der diese umstrittene Kompensation recht positiv sieht. Demnach lohnen sich derartige Zahlungen bei Flugreisen für das Klima. Kritiker dieser Einschätzung kommen indes nicht zu Wort. Es wir zwar kurz angesprochen, dass es Gegenpositionen gibt, doch Argumente pro und contra führt der Artikel nicht an. Unklar bleibt auch, innerhalb welcher Zeiträume die Emissionen ausgeglichen werden, und wie das zu kontrollieren ist. Angesichts der vielen verschiedenen Zertifikate und Standards, die es gibt, vermissen wir hier Entscheidungshilfen für die Meinungsbildung der Leserinnen und Leser: Worin unterscheiden sich die verschiedenen Möglichkeiten der Kompensation? Auch die Kosten, die jeweils entstehen, spricht der Beitrag nicht an.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Beitrag macht in sachlichem Ton darauf aufmerksam, dass durch die Nutzung eines Flugzeugs bei Reisen erhebliche Mengen an Treibhausgasen entstehen, und dass deren Ausstoß in großer Höhe besonders zur Klimaerwärmung beiträgt. Als Beispiel wird genannt, dass ein einziger Hin- und Rückflug eines deutschen Urlaubers von Berlin nach Gran Canaria ebenso viele Treibhausgase verursacht wie ein Inder durchschnittlich im ganzen Jahr. Der vorgestellte Lösungsansatz – Kompensationszahlungen für Klimaschutzprojekte – wird allerdings recht unkritisch positiv dargestellt – siehe dazu auch Kriterien 2 und 4. Wir werten daher „knapp erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Beitrag verweist auf eine Reihe von Zahlen und Angaben des Umweltbundesamtes (UBA), sowohl aus einer Pressemitteilung wie aus einer Studie, die im Auftrag des UBA den Markt von freiwilligen Kompensationsleistungen für Treibhausgasemissionen in Deutschland untersuchte. Auf welcher Datenbasis das UBA zu seinen Schlussfolgerungen kommt, erfährt man dabei nicht, es fehlen Informationen dazu, wie die Daten erhoben wurden. So erwähnt der Beitrag nicht, dass wesentliche Aussagen des UBA-Berichts auf einer eher schmalen Datenbasis fußen: 39 Privatpersonen, 9 Nichtregierungsorganisationen/Stiftungen und etwas mehr als 100 Unternehmen haben an der Befragung teilgenommen.
Erhebliche Diskrepanzen zwischen den Erwartungen auf Nachfragerseite und den Angeboten der Anbieter von Zertifikaten aus Kompensationsprojekten werden im Artikel nicht angesprochen. So wünschen sich die meisten Nachfrager, dass die Emissionen in Deutschland kompensiert werden. Tatsächlich finden die meisten Projekte in Asien statt. Auch zum Wirrwarr der vielen verschiedenen Zertifikate und Standards hätte man sich genauere Informationen gewünscht.
Bei der Angabe, dass 4,4 Millionen Tonnen Kohlendioxid durch Kompensationszahlungen im Jahr 2013 neutralisiert werden konnten, fehlt der Vergleich zur Gesamtemission Deutschlands an Treibhausgasen und der durch deutsche Flugpassagiere verursachten Emissionen. Für sich allein hat diese Zahl keine Aussagekraft.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Als einzige Quelle wird eine Publikation des Umweltbundesamts ausgewertet; die beiden Beratungsunternehmen, die den Bericht fürs UBA verfasst haben, erwähnt der Beitrag nicht. Hier hätten wir eine Information dazu erwartet, dass beide Firmen beratend im Bereich Kohlenstoffmanagement tätig sind. Angeführt werden außerdem „private Umweltschutzorganisationen“ ohne Nennung einer konkreten Quelle.
In einem Kommentar neben dem hier begutachteten Beitrag werden zwar Aussagen des Bundesverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft zu Energieeinsparungen kritisch hinterfragt, doch bezieht sich dies nicht auf die Inhalte des Artikels. Es fehlt also eine zweite Quelle, die sich ebenfalls mit der Thematik der Kompensationszahlungen befasst und die die UBA-Haltung hätte bestätigen oder kritisch hinterfragen können.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Es wird klar, dass der Verzicht auf Flugreisen die beste Wahl wäre, und Kompensationszahlungen das Problem nur verkleinern, aber nicht aus der Welt schaffen können. Zwar erwähnt der Beitrag, dass die Kompensation von manchen Kritikern „gerne als Ablasshandel bezeichnet wird“. Aber worin die Kritik besteht oder wer sie äußert, erfahren Leserinnen und Leser nicht. Das ist aber eine entscheidende Frage bei der Bewertung freiwilliger Kompensationsleistungen, die seit Jahren immer wieder u.a. wegen mangelnder Transparenz und fehlender Kontrollen kritisiert werden. Ob zu Recht oder Unrecht ist nicht Gegenstand dieses Gutachtens, doch sollten die Argumente pro und contra zumindest kurz genannt werden.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Text basiert nicht auf einer einzelnen Pressemitteilung, auch wenn er sich stark an den Informationen auf der Web-Seite des UBA orientiert.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es wird klar, dass es nicht um eine aktuelle Studie geht, sondern diese bereits Anfang des Jahres veröffentlicht wurde, also beim Erscheinen des Artikels schon mehr als ein halbes Jahr alt ist. Der Beitrag greift das Thema zu einer Zeit auf, in der es durch die Urlaubszeit erneut Alltagsaktualität gewinnt. Es wird durch den Bezug zu Kritikern des „Ablasshandels“ zumindest indirekt klar, dass Kompensationszahlungen für Flugreisen schon länger umstritten sind. Wie lange diese Diskussionsprozesse andauern, hätte indes deutlicher werden können.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Der Beitrag nennt zwei Lösungsansätze für das Problem der Treibhausgasemissionen durch Flugreisen. Zum einen betont er, dass der Verzicht die beste Lösung wäre. Zum anderen beschäftigt er sich mit der Option, Treibhausgasemissionen zu kompensieren: eine freiwillige Zahlung mit der z.B. Flugreisende ein Klimaschutzprojekt irgendwo auf der Welt finanziell unterstützen. Insofern nennt der Beitrag Lösungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen. Der Beitrag schließt sich dabei weitgehend dem positiven Votum des Umweltbundesamtes an, Kritikpunkte an diesem Konzept fehlen (siehe Kriterium 4). Auch hätten wir uns nähere Informationen zum Wirrwarr der verschiedenen Standards und Zertifikate bei den Kompensationsprojekten gewünscht. Missverständlich ist die Darstellung zu Zertifikaten mit „Goldstandard“, (siehe auch allgemeinjournalistisches Kriterium 2, Darstellung), auch stellt sich die Frage, was ist mit einem „hohen Zusatznutzen“ gemeint ist. Da die Handlungsoption „Kompensationszahlungen“ so insgesamt nur ungenau beschrieben wird, werten wir „knapp erfüllt“.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/ regional /global) wird dargestellt.

Der Beitrag berichtet, dass Emissionen, die durch Flugreisen entstehen, durch Projekte „irgendwo in der Welt“ vermieden werden sollen. Hier fehlen allerdings wichtige Informationen aus der UBA-Studie: Die Menschen wünschen sich demnach, dass ihre Zahlungen primär in Projekte in Deutschland, Afrika oder im Nahen Osten investiert werden – tatsächlich fließen sie überwiegend nach Asien. Warum ist das so? Sind dort Klimaschutzprojekte günstiger zu finanzieren, werden dort mehr Kompensationsprojekte angeboten, sind die Kontrollen weniger streng? Wie lässt sich überhaupt sicherstellen, dass die Zahlung eines Passagiers wirklich irgendwo auf der Welt so verwendet wird, wie man es ihm verspricht? Diese entscheidenden Fragen für jeden, der vor der Entscheidung steht, eine freiwillige Kompensationszahlung für eine Flugreise zu leisten, greift der Beitrag nicht auf.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Der Beitrag macht deutlich, dass es sich bei den Treibhausgasemissionen des Flugverkehrs um ein lang andauerndes und zunehmendes Problem handelt (letzteres wird zumindest im beigefügten Kommentar deutlich). Unklar bleibt aber, über welchen Zeitraum Klimaschutzprojekte die Treibhausgasemissionen kompensieren können. Man erfährt nicht genügend darüber, wie das Kompensationssystem in dieser Hinsicht überhaupt funktioniert: Wird durch die Zahlung einer Summe X für die beim Flug emittierten Treibhausgase noch im selben Jahr oder in naher Zukunft oder im Laufe von Jahrzehnten etwas fürs Klima getan? Der Bau einer Windkraftanlage dauert ebenso Zeit wie die Anpflanzung von Wäldern – über welchen Zeitraum reduzieren also Kompensationsprojekte wirksam die Emissionen? Der Beitrag beleuchtet dies nicht.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Beitrag geht zu wenig auf die unterschiedlichen Kompensationsmöglichkeiten und die Konzepte der verschiedenen Anbieter ein. Es müsste klarer werden, dass es große Unterschiede gibt – beispielsweise beim sozialen und wirtschaftlichen „Zusatznutzen“ für Entwicklungsprojekte. Auch die Frage der Kosten der Kompensation wird nicht angesprochen. Dabei zeigt die UBA-Studie, dass die Kosten zwischen 40 Cent und 50 Euro je Tonne Kohlendioxid schwanken können. Was die Kompensation den Verbraucher kostet, wird nicht erwähnt. Wie viel ist sinnvoll bzw. vertretbar? Wie groß sind überhaupt die Summen, die durch freiwillige Kompensationen in den Klimaschutz fließen? Leserinnen und Leser erfahren all das nicht.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema ist relevant und, obwohl die Studie schon etwas älter ist, aufgrund der Urlaubszeit mit entsprechend vielen Flugreisen auch aktuell.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Text ist routiniert geschrieben, meist verständlich und leicht zu lesen, wenn er auch die Vertiefung einiger Fragen vermissen lässt. Zu den verschiedenen Zertifikaten fehlen jedoch Erläuterungen, sodass die betreffende Passage unverständlich bleibt. Missverständlich ist der Satz „Der UBA Studie zufolge erhalten dabei nach dem Goldstandard vergebene Zertifikate zur Emissionsreduktion, kurz CER genannt, bei den Nachfragern die beste Bewertung“ Man kann ihn so lesen, dass die Zertifikate zur Emissionsreduktion CER genannt werden – was stimmt; aber auch so, dass CER die Bezeichnung für Zertifikate mit Goldstandard (also mit besonders hohen Anforderungen) ist – was falsch ist, es gibt CER mit und ohne Goldstandard. Welche Qualitätsstandards es darüber hinaus gibt und worin sie sich unterscheiden, bleibt unklar, hier wäre etwas mehr Service für Leserinnen und Leser hilfreich. Wir werten „knapp erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Die Darstellung zu den Zertifikaten mit Goldstandards kann auch falsch interpretiert werden, (siehe allgemeinjournalistisches Kriterium 2). Ansonsten haben wir keine Faktenfehler gefunden.

Umweltjournalistische Kriterien: 4 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar