Bewertet am 3. November 2014
Veröffentlicht von: Süddeutsche Zeitung

Ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung berichtet über eine Tagung in Berlin, bei der diskutiert wurde, ob wir heute in einem neu zu benennenden Zeitalter, dem Anthropozän, leben. Der Text ist interessant zu lesen und vermittelt gut verständlich, dass viele Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt weit in die Zukunft reichen werden. Argumente, die gegen das Konzept des Anthropozäns sprechen, hätten indes ausführlicher erläutert werden können.

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt anhand vielfältiger Beispiele, wie der Mensch auf der Erde Spuren hinterlässt, die womöglich auch in erdgeschichtlichen Zeiträumen noch nachweisbar sein werden – von Plastikmüll, Alufolien und langlebigen Kugelschreiberspitzen, die Archäologen einst ausgraben mögen, bis zu weltweit noch in 100.000 Jahren nachweisbarem Plutonium aus oberirdischen Atombombentests. Der Artikel greift damit eine langjährige Diskussion auf, die zunächst etwas akademisch klingt: Ist es angesichts dieses menschlichen Einflusses sinnvoll, die Epoche des Holozäns (also des Erdzeitalters, in dem wir leben) formal als beendet zu betrachten, und ihr eine neu bezeichnete Epoche des Anthropozäns (eines vom Menschen geprägten Erdzeitalters) folgen zu lassen? Die  Beispiele, die für diese Idee sprechen, sind indes gut gewählt und so aufbereitet, dass Leserinnen und Leser die Argumentation der Anthropozän-Befürworter nachvollziehen können.

Auch Probleme, das Anthropozän zu definieren, werden angesprochen, doch Einwände gegen dieses Konzept nur knapp dargestellt. Deutlich wird im Beitrag, wie langwierig sich die innerwissenschaftliche Diskussion dazu gestaltet. Bei den Beispielen für langfristige Umweltfolgen menschlichen Handelns hätten wir uns noch ein paar mehr konkrete Zeitangaben gewünscht, die aufzeigen, wie lange sich welche menschlichen Aktivitäten und Produkte auswirken könnten.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE ÜBERTREIBUNG / VERHARMLOSUNG: Risiken und Chancen werden weder übertrieben dargestellt noch bagatellisiert.

Der Beitrag beschreibt sachlich die wissenschaftliche Debatte darüber, ob es aus geologischer Sicht angemessen ist, ein neues Zeitalter des Anthropozäns zu definieren. Es werden diverse Beispiele für den Einfluss des Menschen auf den Planeten dargestellt, die – das ist für die Betrachtung entscheidend – auch in geologischen Zeiträumen noch nachweisbar sein werden. Die Beispiele werden als Fakten vorgetragen ohne sie zu werten, Übertreibungen oder Verharmlosungen sind dabei nicht  erkennbar.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Anlass des Bericht ist eine wissenschaftliche Tagung, daher werden als Belege vor allem Äußerungen der dort anwesenden Experten angeführt. Im Beitrag  wird dabei hinreichend klar, warum die zitierten Wissenschaftler die Einwirkung des Menschen auf die Natur für so gravierend halten, dass man durch sie  ein neues Erdzeitalter definieren könnte. Dafür werden diverse Beispiel genannt – von der Anhäufung kaum abbaubarer Kunststoffe sowie von Aluminiumfolien bis zum Plutoniumniederschlag.

Interessant hätten wir noch den Aspekt gefunden, ob auch  das vom Menschen verursachte Artensterben in der Zukunft als Merkmal des „Anthropozäns“ gelten könnte. Da andererseits die die Kambrische Explosion – also das Entstehen zahlreicher neuer Tierstämme –  als ein Beispiel für eine natürlich vorkommende Erdzeitalter-Grenze angeführt wird, hätte diese Frage zumindest nahegelegen.

3.EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Abhängigkeiten deutlich gemacht und zentrale Aussagen durch mindestens zwei Quellen belegt.

Es wird klar, dass es sich bei den vielen genannten und zitierten Experten um Ausführungen anlässlich einer Fachtagung handelt. Die Angaben zu Zahlen und Fakten sind klar einzelnen Wissenschaftlern zugeordnet. Hinweise auf Interessenskonflikte haben wir nicht gefunden, sie sind sind bei diesem Thema auch nicht unbedingt zu erwarten.

4.PRO UND CONTRA: Es werden die wesentlichen relevanten Standpunkte angemessen dargestellt.

Die im Beitrag zitierten Experten befürworten durchweg das Konzept des Anthropozäns, Wissenschaftler, die ihm ablehnend gegenüberstehen, kommen nicht zu Wort. Immerhin macht der Beitrag deutlich, dass es auch andere Auffassungen gibt: „Von den zuständigen Wissenschaftlern allerdings ist der Begriff noch nicht  akzeptiert“. Auch fordere das neue Paradigma den Fortschrittsbegriff heraus. Indes nimmt der Beitrag nur knapp auf konkrete Argumente Bezug, die gegen dieses Paradigma sprechen. So wird die Problematik angesprochen, dass nicht alle Einflüsse des Menschen in allen Regionen gleichermaßen zu beobachten sind (siehe dazu Kriterium 8), was „eine klare Definition des Anthropozän“ erschwere.

Auch wenn die Auswirkungen des Menschen auf die Erde zweifellos gegeben sind, ist die Ausrufung eines neuen Erdzeitalters offenbar in der Wissenschaft derzeit kein Konsens. Daher hätten wir es richtig gefunden, wenn hier die Gegenargumente etwas mehr Raum erhalten hätten. Wir werten daher „knapp nicht erfüllt“.

5. PRESSEMITTEILUNG: Der Beitrag geht deutlich über die Pressemitteilung / das Pressematerial hinaus.

Die Pressemitteilung weist lediglich auf die Veranstaltung hin, nicht aber auf Ergebnisse. Daher ist sie für den Beitrag kaum relevant, dieser geht deutlich über die Infos auf der Ankündigung hinaus. Nebenbei bemerkt: Während die PM ziemlich verquast daher kommt  („Die rasante Neuformation von Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck, Quantität und Qualität erfordert eine neue Erschließung von Welt, die nicht auf postmoderne Diskurse, sondern materielle Zusammenhänge und Prozesse abzielt“), vermittelt  der Beitrag das Thema sehr gut verständlich (siehe Allgemeinjournalistisches Kriterium 2).

6. ALT oder NEU: Der Beitrag macht klar, ob es sich um ein neu aufgetretenes Umweltproblem, eine innovative Umwelttechnik o.ä. handelt, oder ob diese schon länger existieren.

Es wird klar, dass der Vorschlag, ein neues Erdzeitalter zu definieren, nicht neu sondern seit Jahren in der Fachwelt bekannt ist („Seit einem guten Dutzend Jahren diskutieren  Wissenschaftler wie Kulturschaffende  bereits über diesen Begriff“).  Der Text verweist darauf, dass Nobelpreisträger Crutzen den Begriff bereits im Jahr 2000 prägte. Auch wird berichtet, dass die zuständige Internationale  Kommission für Stratigrafie (eine Unterorganisation der International Union of Geological Sciences, die die weltweit gültige geologische Zeitskala definiert) seit 2009 eine 30-köpfige Arbeitsgruppe mit dem Thema beschäftigt. Neu ist, so erfährt man, allein die Ausstellung, die den Anlass für ein Treffen der zuständigen Kommission bot.

7. LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN / kein „Greenwashing“: Der Beitrag nennt Wege, um ein Umweltproblem zu lösen, soweit dies möglich und angebracht ist.

Hier wird nicht über ein zu lösendes Umweltproblem berichtet, sondern über eine Forscherdebatte, bei der es um die wissenschaftliche Einordnung und Benennung der Spuren menschlichen Handelns geht.

8. RÄUMLICHE DIMENSION (lokal / regional / global): Die räumlichen Dimensionen eines Umweltthemas werden dargestellt.

Dass die Definition eines neuen Erdzeitalters in seiner räumlichen Ausdehnung den gesamten Planeten umfasst, bedarf keiner besonderen Erläuterung. Der Beitrag erklärt, dass nicht alle Einflüsse des Menschen, die zur Begründung des Anthropozäns herangezogen werden, in allen Erdregionen gleichermaßen zu beobachten sind: „Die Menschheit baute das alles um Größenordnungen ausladender: Hochhäuser, Untergrundbahnhöfe, Häfen, Minen und die Becken von Kläranlagen, oft dutzendweise zur Matrix angeordnet. Für eine klare Definition des Anthropozäns aber versuchen die Forscher der Arbeitsgruppe ein eindeutiges Merkmal zu identifizieren, das auch weit jenseits der Ballungsräume den Anfang des Zeitalters markiert.“ Im Folgenden wird dann ausgeführt, dass andere menschliche Einflüsse, wie das Plutonium aus Atombombentests, auch jenseits von Industrieregionen und Ballungsräumen anzutreffen sind.

9. ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit): Die zeitliche Reichweite eines Umweltproblems oder Phänomens wird dargestellt.

Der Beitrag verweist auf die Langfristigkeit der Umweltfolgen menschlichen Handelns. Es wird dargestellt, in welchen Zeiträumen sie enstanden sind (etwa die verschobene Verteilung von Kohlenstoff-Isotopen in der Atmosphäre seit 1750). Auch wird klar, dass die menschlichen Einflüsse auf die Umwelt über lange Zeiträume prägend sein müssen, um die Benennung eines neuen Erdzeitalter zu rechtfertigen. Für Plutonium wird die zeitliche Dimension der Nachweisbarkeit konkret benannt  („Da Plutonium-239 eine Halbwertszeit  von etwa 24 000 Jahren  besitzt, wird sich die Grenze auch in 100.000 Jahren noch problemlos nachweisen lassen“).

Bei vielen anderen genannten Eingriffen (von Kunststoffmüll bis zum Bergbau) wird indes nicht klar, für wie lange Zeit sie Spuren hinterlassen werden, bzw. welche Schätzungen es dazu gibt. Wie lange bleiben Kunststoff und Alufolien erhalten? Wie lange dauert es, bis Betonbauwerke völlig zerfallen sind? Ob die Sperrwirkung von Talsperren wirklich geologische Zeiträume andauern wird, wäre zumindest zu hinterfragen. Angesicht der vielen anschaulichen Beispiele im Text sind zwar nicht für jedes einzelne genaue Zeithorizonte zu nennen. Da aber die Langfristigkeit der Effekte das zentrale Thema des Beitrags sind, hätten wir hier doch einige konkrete Angaben mehr erwartet.

Gut dargestellt ist dagegen die Dauer der wissenschaftlichen Diskussion. Wir werten „knapp nicht erfüllt“.

10. KONTEXT / KOSTEN: Es werden politische, soziale oder wirtschaftliche Aspekte eines Umweltthemas einbezogen.

Es wird im Text angesprochen, dass die Debatte nicht allein unter Geologen sondern auch unter Kulturwissenschaftlern geführt wird. Diesen interdisziplinären Aspekt zu vertiefen wäre zusätzlich interessant gewesen, er wird aber nicht weiter ausgeführt. Politische, wirtschaftliche oder soziale Kontexte, die hier anzusprechen wären, sind für uns bei dieser innerwissenschaftlichen Debatte nicht erkennbar. Wir werten das Kriterium daher nicht an.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. THEMENAUSWAHL: Das Thema ist aktuell, oder auch unabhängig von aktuellen Anlässen relevant oder originell.

Die Veranstaltung sowie die Ausstellung bieten einen aktuellen Anlass für die Berichterstattung. Der extrem langfristige Einfluss des Menschen auf die Umwelt ist ein dauerhaft relevantes Thema.

2. VERMITTLUNG: Komplexe Umweltzusammenhänge werden verständlich gemacht.

Der Text liest sich sehr schön, schon der  Einstieg mit einem kurzen plastischen Satz ist sehr gelungen.  Es gelingt in diesem Beitrag, eine an sich recht trockene wissenschaftliche Diskussion mit vielen Beispielen aufzulockern und verständlich zu machen. Dabei bleibt der rote Faden jederzeit erkennbar, so dass die vielen unterschiedlichen Aspekte nicht ermüdend wirken.

3. FAKTENTREUE: Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder.

Faktenfehler sind uns nicht aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 6 von 8 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar