Bewertet am 6. April 2014
Veröffentlicht von: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das folgende Gutachten wurde 2014 im Rahmen eines Klima-Specials beim Mediendoktor UMWELT veröffentlicht. Weitere Informationen zum Klima-Special erhalten Sie hier.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien ein Interview mit einem der Leitautoren des zweiten Teils des neuen Berichts des Weltklimarates IPCC. Im Beitrag wird erläutert, dass „die Gefährdung der Natur in Zukunft klar klimagetrieben sein wird“, gleichwohl andere Faktoren, wie die Zerstörung von Lebensräumen, oft noch gravierendere aktuelle Folgen haben dürften. Die sehr allgemeinen Aussagen werden jedoch nur mit wenigen Fakten und Beispielen belegt; klärende Nachfragen fehlen.

Zusammenfassung

Kurz nach der Veröffentlichung des Teilberichtes zum 5. Weltklimabericht mit dem Titel „Folgen, Anpassung, Verwundbarkeit“ wird einer der Autoren, Josef Settele, Ökosystemforscher am Helmholtz-Zentrum in Halle, interviewt. Settele koordinierte die Arbeiten für das Kapitel 4 des Papiers mit dem Titel „Terrestrische Ökosysteme und Binnengewässer“. Das Interview befasst sich mit wichtigen Aspekten des IPCC-Berichts, zum Beispiel mit dem Thema Artensterben oder dem Anstieg des Meeresspiegels. Im Interview wird angesprochen, dass der Weltklimarat Unsicherheiten in seinen Prognosen deutlicher als früher thematisiert und die unterschiedliche Zuverlässigkeit von Aussagen transparent macht. Zugleich widerspricht der Interviewte klar der Einschätzung, es handele sich dabei um ein „Kehrtwende“ des Weltklimarates. Die Arbeitsweise der IPCC wird jedoch nicht hinreichend erklärt. Auf Handlungsoptionen geht der Beitrag nicht ein, obwohl diese in dem zugrundeliegenden Teilbericht ein zentrales Thema sind. Einzelne Passagen sind nur für Insider verständlich, auch enthält der Beitrag deutliche Faktenfehler.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Im Interview werden die Gefahren des Klimawandels weder übertrieben noch bagatellisiert. Der Beitrag fragt danach, wie dramatisch die Situation ist, ohne dass das Pendel eindeutig in eine Richtung ausschlägt. Dies wird auch in der zurückhaltend formulierten Überschrift („Es ist nicht ganz so aussichtslos“) deutlich. Die Hauptzeile bildet den Ernst der Lage ab, ohne sich einen „Alarmismus“ zu eigen zu machen oder die Risiken zu bagatellisieren. Sie gibt damit den Tenor des Interviews zutreffend wieder. Auch der Gesprächspartner setzt sich mit dem Thema „Alarmismus“ auseinander („Ich bin kein Freund von Alarmismus. Einige der Szenarien sind etwa kritischer geworden, aber das ist nicht alarmierender. Einzuschätzen, ob es beunruhigend ist, was wir schreiben, ist ja nicht einfach.“).

2. BELEGE/EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

In Fragen und Antworten wird erwähnt, dass sich verschiedene Befunde und Prognosen aus „Modellen“ und „Szenarien“ herleiten. Auch wisse man jetzt „mehr über die Unsicherheiten“. Warum das so ist, und wie die einzelnen Aussagen zustande kommen, erfahren Leserinnen und Leser jedoch nicht. Es wird beispielsweise erwähnt, dass die Aussagen des Berichts „nach dem Grad an Vertrauenswürdigkeit eingestuft“ wurden; der Experte nennt aber kein Beispiel – und der Interviewer fragt nicht nach. So bleibt offen, warum die Aussagen unterschiedlich vertrauenswürdig (bzw. zuverlässig) sind, und auf welche Angaben sich das bezieht. Allenfalls Insider können mit diesen Äußerungen etwas anfangen. Hier wären klärende Nachfragen nötig gewesen.

Auch für konkrete Angaben, wie beispielsweise die, dass durch den Klimawandel das Aussterberisiko „hoch, vermutlich sogar noch etwas höher geworden“ sei, während andere Arten einwandern, fehlen Informationen, die den Zusammenhang mit dem Klimawandel belegen. Das von Settele mitverantwortete Kapitel im IPCC-Bericht stellt fest, dass das Risiko des Aussterbens für viele Arten unter allen Szenarien erhöht sei, der Zusammenhang zwischen invasiven Arten und dem Klimawandel gilt dagegen nicht als gesichert („the ability to attribute alien species invasion to climate change is low in most cases”).

3. EXPERTEN/QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Eine zweite Expertenmeinung wird in einem Interview üblicherweise nicht herangezogen. Daher wenden wir dieses Kriterium nicht an.

Wünschenswert wäre es allerdings gewesen, die Rolle des Gesprächspartners Josef Settele bei der Erstellung des IPCC-Berichts genauer zu beschreiben; er wird etwas vage als „Mitautor des neuen IPCC-Berichts“ vorgestellt. Hier wäre es sinnvoll gewesen zu erwähnen, zu welchem Teil des Berichts er einen Beitrag geleistet hat; Tatsächlich war Settele einer von zwei Leitautoren von Kapitel IV zum Thema „Terrestrische Ökosysteme und Binnengewässer“. Auch die besondere Spezialisierung des Ökologen auf Schmetterlingskunde wäre eine Erwähnung wert gewesen, weil sie erklärt, warum er sich in seinen Antworten wiederholt auf Schmetterlinge bezieht.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Text stellt im Vorspann fest, dass es zur Bewertung des IPCC-Teilberichts unterschiedliche Positionen gibt: „Viele Umweltschützer und Politiker wollen die datenreiche Analyse als Weckruf verstanden wissen. Andere halten sie für zu alarmistisch.“ Dass einige Positionen strittig sind, klingt im Interview an. So wird die Frage gestellt: „Gab es auch schwierige Diskussionen mit den Delegierten der Regierungen?“ Was Settele bejaht mit der Bemerkung: „Einige. Die klimapolitischen Interessen sind ja doch sehr unterschiedlich. Der Beitrag macht deutlich, dass es verschiedene Sichtweisen gibt, z.B. beim Thema Artensterben und Klimawandel oder zum Anstieg des Meeresspiegels.

Allerdings werden solche Konflikte nur sehr allgemein angesprochen, ohne die Akteure und ihre unterschiedlichen Interessen konkret zu benennen. Settele referiert die Position des IPCC-Berichts, ohne genauer auf die Datenlage einzugehen. Auch auf die Frage, wer betroffen ist, wer profitiert oder ggf. Nachteile hat, gehen weder der Interviewte noch der Interviewer weiter ein. Deshalb werten wir nur „knapp erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/das Pressematerial hinaus.

Es liegen Pressemitteilungen zur Veröffentlichung des IPCC-Berichts vor, insbesondere auch vom IPCC selber. Hier handelt es sich aber um ein davon unabhängiges, den Bericht einordnendes Interview mit einem der Mitautoren, der in den Pressemitteilungen nicht einmal zitiert wird. Das Interview hat einen ganz anderen Fokus als die verschiedenen Pressemitteilungen.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Das Interview macht klar, dass der jetzt veröffentlichte IPCC-Bericht eine Vielzahl von neuen Daten, Studien und Faktoren berücksichtigt hat und deshalb aktualisierte Aussagen zum Problem des Klimawandels machen kann.

Das Interview bringt zum Ausdruck, dass der neue IPCC-Bericht in mehrfacher Hinsicht auch neue Wege beschritten hat: Im Vergleich zu früheren Berichten spiele nunmehr die „Interaktion vieler Faktoren“ eine größere Rolle („Wir betrachten das Klima jetzt nicht mehr isoliert“); man habe verzichtet auf „konkrete Schätzungen, weil es sich als schwieriger herausgestellt hat, mit den Modellen klare Zahlen zu erzeugen“; der Bericht habe eine ganz „neue Sprache“, weil Aussagen „nach dem Grad an Vertrauenswürdigkeit eingestuft“ werden.

Zugleich macht Settele deutlich, dass von der in einer Frage suggerierten „Kehrtwende“ des IPCC keine Rede sein kann: „Wir schreiben die alten Befunde fort“.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Das Interview beschäftigt sich nicht mit dem Thema Lösungsoptionen und Handlungsmöglichkeiten (bis auf den diffusen Hinweis: „Wenn ich später noch Arten schützen will, dann muss ich dafür sorgen, dass die Arten heute zuerst erhalten werden“), obwohl das Thema „Anpassung an den Klimawandel“ im IPCC-Bericht „Climate Change 2014: Impacts, Adaptation, and Vulnerability“ ein zentrales Thema ist.

In fünf Kapiteln werden Voraussetzungen, Möglichkeiten, Grenzen und Kosten von Anpassungsmaßnahmen diskutiert. Das Thema wird auch in der Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger („Summary for Policymakers“) und in der Pressemitteilung besonders hervorgehoben. Nichts davon schlägt sich im Interview nieder.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

In räumlicher Hinsicht ist das Interview differenziert. Die Probleme werden in ihrer Globalität deutlich, die Folgen aber auch auf größere und kleinere Regionen (Europa, Deutschland) heruntergebrochen. Der Beitrag geht darauf ein, dass sich der Klimawandel in verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich auswirkt, dass es z.B. Bereiche in Mitteleuropa gibt, die in gewisser Hinsicht profitieren, während andere Regionen stärker von negativen Folgen betroffen sind.

Beim als Beispiel erwähnten Eisbär wird ausdrücklich mit einer räumlichen „Skala“ argumentiert: Gefährdung „auf lokaler Ebene in einigen Teilen seines Verbreitungsgebiets“; doch insgesamt werde „das Aussterben schon sehr lange dauern, weil es immer noch ein paar Schollen im Norden gibt.

Eigenartig ist allerdings, dass der Brocken (evtl. durch eine Auslassung beim Redigieren?) in die Alpen verlagert wird (s.u.: Faktentreue).

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Das Interview differenziert klar zwischen heute bereits beobachteten Wirkungen des Klimawandels und den für die Zukunft prognostizierten Folgen (z.B.: „… haben wir beispielsweise klargemacht, dass die Gefährdung der Natur in Zukunft klar klimagetrieben sein wird, dass aber andere Faktoren wie Lebensraumzerstörung heute noch dominanter sind“ – „Das Klima wird vor allem mittelfristig spannend.“ – „Es gibt ganz wenige belastbare Fakten, dass die globale Erwärmung heute schon der dominante Faktor ist.“ )

Allerdings bleibt im Beitrag der Zeitrahmen der Prognosen unklar, während der IPCC- Bericht selbst sehr detailliert auf aktuelle, kurz- und langfristige Auswirkungen eingeht und dafür konkrete Zeiträume nennt (2030 – 2040 bzw. 2080 – 2100).

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Beitrag stellt die Folgen des Klimawandels zwar in den Kontext von Landnutzung, Umweltverschmutzung und Lebensraumzerstörung. Er geht damit aber nicht über den naturwissenschaftlichen Ansatz der „Ökosystemforschung“ hinaus, obwohl dem Leser in Aussicht gestellt wird, er erhielte allgemein Auskunft über „die Folgen der globalen Erwärmung“ und darüber „was den IPCC bewegte“.

Dies ist umso bemerkenswerter, als der IPCC-Bericht die Bedeutung wirtschaftlicher und sozialer Faktoren ausdrücklich hervorhebt („These differences shape differential risks from climate change. (…) People who are socially, economically, culturally, politically, institutionally, or otherwise marginalized are especially vulnerable to climate change” (Link)

In Interview wird nicht nach dem wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Kontext gefragt. Insbesondere der Aspekt der Kosten wird an keiner Stelle angesprochen: Welche Kosten verursacht der Klimawandel voraussichtlich, z.B. durch Ernteverluste, geringere Ökosystemleistungen, Überflutungen etc.? Welche Kosten würde ein Gegensteuern verursachen, welche Kosten sind mit Anpassungsstrategien verbunden? Wo verlaufen die politischen Konfrontationslinien, welche gesellschaftlichen Konsequenzen sind mit den Veränderungen verbunden?

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema Klimawandel ist dauerhaft aktuell und relevant, die Veröffentlichung des IPCC-Teilberichts ein hochaktueller Anlass.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Das Interview enthält interessante Passagen, ist aber streckenweise nur für Insider verständlich. Schon die Unterstellung in der ersten Frage, ein Ökologe müsse mit dem Klimabericht zufrieden sein, erschließt sich nicht. Vor allem aber verzichtet der Interviewer an wichtigen Stellen auf Nachfragen. Z.B. wäre es interessant zu erfahren, warum das Aussterberisiko höher geworden ist. Unverständlich bleibt die Antwort auf die Frage, ob es auch „schwierige Diskussionen mit den Delegierten“ gegeben habe. Weder erfährt man, wer die Kontrahenten sind, noch wird deutlich, in welcher Beziehung erwähnte Aspekte wie Meeresspiegelanstieg, Klimawandel, Mangrovenzerstörung oder Städtebau wie in Saigon überhaupt zueinander stehen.

Einige Fragen und Antworten sind unbeholfen und grammatisch grenzwertig formuliert. Zum Beispiel: „Als Mitteleuropäer ist der Klimawandel vielleicht gar nicht so schlecht.“

Auch passen Fragen und Antworten nicht immer zueinander bzw. der Gesprächspartner beantwortet manche Fragen nicht, ohne dass der Interviewer nachhakt. So z.B. bei der Frage: Ob der Bericht auch eine Fleißarbeit sei, „um nach den früheren Skandalen um die zweite Arbeitsgruppe die Integrität wiederherzustellen?“ Es folgt eine Aufzählung der Mühen mit dem begrenzten Platz, der zur Verfügung stand, aber KEINE Antwort darauf, ob es um die „Integrität“ der zweiten Arbeitsgruppe gegangen sei. Warum diese in Frage stehen könnte und worum es sich bei den angesprochenen „früheren Skandalen um die zweite Arbeitsgruppe“ überhaupt handelt, wissen sicher die wenigsten Leser noch. Erläutert wird all das nicht.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Das Interview enthält nur wenige Daten und Fakten, sondern eher allgemeine Einschätzungen. Doch bei den wenigen konkreten Beispielen fällt zumindest ein klarer Faktenfehler auf, nämlich wenn es heißt: „Nehmen wir den Brocken-Mohrenfalter in Bayern. Der kam auf dem Brocken südlich in den Alpen vor. Dem ist es da oben definitiv zu warm geworden, er ist damit weg aus Deutschland.“ Der Brocken ist der höchste Berg des Mittelgebirges Harz, das ist von Bayern und den Alpen weit entfernt – womöglich ist hier beim Redigieren des Interviews ein Teil von Setteles Ausführungen verloren gegangen.

Ob sich der Segelfalter in Sachsen ausbreitet, wie es im Beitrag heißt, oder ob er sich dem Anschein nach eher zurückgezogen hat, hängt offenbar vom betrachteten Zeitraum ab. So gibt es Berichte, dass die wärmeliebende Art vom Klimawandel profitieren könnte, aber an anderer Stelle heißt es: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war I. podalirius in Sachsen eine ‚verbreitet’ vorkommende Art (Möbius 1905). Zahlreiche historische Vorkommen sind aktuell erloschen (Reinhardt et al. 2007). Gegenwärtig konzentrieren sich die Nachweise auf zwei getrennte Gebiete (Elbtal und die nördliche Oberlausitz). In Deutschland und in Sachsen ist der Segelfalter stark gefährdet (Binot et al. 1998; Reinhardt et al. 2007). Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV): Besonders geschützte Art zu § 1 Satz 1.“
Demnach ist die Darstellung im Beitrag zumindest stark verkürzt.

Umweltjournalistische Kriterien: 6 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 1 von 3 erfüllt

Wegen der Mängel in der Darstellung und der Faktenfehler werten wir um einen Stern ab.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar