Bewertet am 25. Januar 2014
Veröffentlicht von: Spiegel Online

Spiegel Online berichtet über das Comeback von Wildtierarten, die in Deutschland ausgestorben oder extrem dezimiert waren. Der leicht verständliche Beitrag liefert viele Fakten und nennt Argumente pro und contra Wiedereinbürgerung von Wolf, Luchs, Biber und Wisent. Allerdings werden diese Punkte ohne tiefere Analyse lediglich aneinandergereiht, eine journalistische Einordnung fehlt.

Zusammenfassung

Der Online-Beitrag beschäftigt sich mit der Einwanderung und Wiederansiedlung vier großer Wildtierarten in Deutschland und zitiert dazu verschiedene Experten. Kurz wird auch die Einschätzung eines Wissenschaftlers aus den USA zur dortigen Situation genannt. Konkrete Beispiele veranschaulichen die verschiedenen Aspekte des Themas. Für Wolf, Luchs, Biber und Wisent werden die aktuellen Populationszahlen zusammengetragen, ohne allerdings zu erläutern, wie diese erhoben wurden. Die Zuverlässigkeit der Angaben ist daher nicht nachzuvollziehen, die in Beitrag genannte Zahl der Biber ist offenbar nicht korrekt.

Der Beitrag nennt positive und negative Aspekte der Entwicklung; die Rolle der Rückkehrer in ihren Ökosystemen wird angesprochen, und über die Befürchtungen von Landwirten und Jägern berichtet. Verschiedene Argumente werden hier aneinandergereiht, jedoch nicht zueinander ins Verhältnis gesetzt. Interessanter wäre es gewesen, eine der Kontroversen genauer dazustellen.

Lösungsmöglichkeiten für Probleme nennt der Beitrag nur knapp; wo in Zukunft die Herausforderungen bei der Ansiedlung großer Wildtiere liegen und welche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, könnte deutlicher herausgearbeitet werden. So bleiben viele der angerissenen Fragen offen: Ist der Widerstand der Bevölkerung bzw. der Bauern ein gravierendes Hindernis für die Wiederansiedlung ? Ist die finanzielle Kompensation von Schäden ausreichend? Sind die großen Wildtiere so wichtig für die deutschen Ökosysteme, dass ihre Rückkehr noch stärker gefördert werden muss? Insgesamt fehlt im Beitrag ein roter Faden.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Beitrag stellt die Rückkehr großer Wildtiere nach Deutschland dar; die werden damit verbundenen Probleme nicht ignoriert, aber auch nicht übertrieben. Sowohl positive als auch negative Auswirkungen der Rückkehr von Wolf, Luchs, Biber und Wisent werden benannt, wenn auch nur recht oberflächlich beschrieben. Wertungen werden oft gleich wieder relativiert („Raubtiere gelten als wichtig für Ökosysteme – doch in Deutschland sind die Auswirkungen derzeit überschaubar“, „Die Wiedereinführung von Wildtieren, insbesondere des Wolfs, weckt vielerorts Skepsis oder gar blanke Angst. Jäger fürchten um ihre Rehe, Schäfer um ihre Schafe und Spaziergänger um ihre Sicherheit, in den meisten Fällen aber völlig unbegründet.“).

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Beitrag nennt an verschiedenen Stellen Zahlen, z.B. Bestandsgrößen, ohne darauf einzugehen, wie diese erhoben wurden. Woher z.B. weiß man, dass es 25 Wolfsrudel in Deutschland gibt? Wie verlässlich ist diese Zahl? Wie lässt sich feststellen, dass im Bayrischen Wald knapp 40 Luchse leben? Die Zahl der Biber in Deutschland wird mit 15.000 angegeben. Der Bericht „Wildlife Comeback in Europe“, der als Link angegeben ist, nennt dagegen mindestens 25.000 Biber (S. 152). Auch ein im Beitrag direkt verlinkter anderer Spiegel Online-Artikel enthält andere Bestandszahlen (siehe dazu auch journalistisches Kriterium 3). Falls der begutachtete Beitrag sich hier auf andere Quellen bezieht, müsste er diesen Widerspruch zumindest erklärten.

 Bei einigen Zahlen kann man davon ausgehen, dass es sich um Beobachtungen bzw. Schätzungen der zitierten Experten handelt, auch weitere Angaben werden jeweils durch einen Experten gestützt („Biber gehören zu den Schlüsselarten in unserem Ökosystem“). Leider schafft gelingt es im Beitrag nicht, die Zahlen und Fakten in eine Argumentationskette einzubauen. Interessant für Leserinnen und Leser wäre zum Beispiel: Wie viele Biber sind angemessen / zu wenige /zu viele für die Ökosysteme in Deutschland? Gibt es eine Populationsstärke, ab der die Klagen über die Tiere stark zunehmen? Die Aussagekraft bleibt daher gering. Da an keiner Stelle auf die Methodik und die Herkunft der Zahlen eingegangen wird, werten wir „nicht erfüllt“.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Die im Artikel zitierten Experten werden korrekt mit ihrer Zugehörigkeit zu Organisationen bzw. Behörden genannt. Beim Förster Arne Riedel wäre es gut gewesen zu erwähnen, dass er einer der vom Land Niedersachsen ernannten ehrenamtlichen „Wolfsberater“ ist – per se also deren Einwanderung positiv gegenübersteht. Ebenso wäre es nützlich gewesen, zu erfahren, dass Coralie Herbst die wissenschaftliche Koordinatorin des Wisent-Projekts ist und dort am Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover forscht. Im Artikel wird sie nur als „vom Verein Wisent-Welt-Wittgenstein“ gekennzeichnet, was ihr positive Bewertung des Auswilderungsprojektes in den Augen des Lesenden womöglich schwächen könnte.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Beitrag zitiert die Standpunkte verschiedener Experten und ordnet sie ein: Forstamt, Wissenschaftler, Nationalparkverwaltung etc., die alle die Wiederkehr der Wildtiere eher positiv bewerten. Er benennt die Vorteile der Rückkehr von Wolf, Luchs und Biber für die Gesundheit des Ökosystems. Zugleich weist er auf Befürchtungen und mögliche Probleme hin, deren Protagonisten werden aber nur allgemein benannt („Landwirte“, „Jäger“). Allerdings setzt sich der Text nicht näher mit den einzelnen Konfliktpunkten auseinander, sondern benennt sie nur, ohne Pro und Contra gegeneinander abzuwägen.

Klar formuliert wird, dass bestimmte Fakten innerhalb der Wissenschaft noch umstritten sind, z.B. die Frage, ob und wie große Räuber die Bestände der Beutetiere regulieren. Wir werten „noch erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Eine Pressemitteilung, auf die sich der Text direkt beziehen könnte, liegt nicht vor. Genutzt wurde möglicherweise eine Fachveröffentlichung im Wissenschaftsmagazin „Science“, zu der es eine Pressemitteilung gibt. Der Hauptautor dieser Studie, William Ripple, wird als einer der Experten im Text zitiert, er beschreibt ein Beispiel aus den USA für die ökologischen Auswirkungen der Wildtierrückkehr. Ein anderer Spiegel-Online-Beitrag berichtete zuvor schon ausführlicher über diese Arbeit. Der hier begutachtete Text legt seinen Schwerpunkt aber fast ausschließlich auf die Situation in Deutschland. Dazu wurden verschiedene Experten befragt. Der Beitrag geht also weit über die Pressemitteilung hinaus.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es wird deutlich, dass die Rückkehr der Wildtiere seit einiger Zeit stattfindet, ohne den Zeitraum jedoch genauer einzuordnen. Lediglich beim Luchs („vor 150 Jahren fast ausgerottet“) und beim Wisent („fast ein Jahrhundert“) gibt es ungefähre Angaben.

Schon ein schneller Blick in die Wikipedia offenbart, wie lange das Thema die Deutschen schon beschäftigt: „Bereits 1714 erließ der preußische König Friedrich Wilhelm I. eine Anordnung, den Biber zu schonen und dessen Vermehrung zu fördern. Gleichwohl waren Ende des 19. Jahrhunderts weite Teile Deutschlands und Europas biberfrei. Sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern wurden von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Schutzprogramme umgesetzt und Biber wieder eingebürgert.“ (siehe hier). Über diese zeitliche Dimension erzählt uns der Beitrag nichts, ebenso wenig erfahren Leserinnen und Leser, dass der Wolf schon seit 1996 wieder in Deutschland heimisch ist. Die im Artikel benannten Konflikte gibt es ebenso lange. Der Artikel nimmt zu wenig Bezug auf die bisherige Entwicklung, Leserinnen und Lesern können so nicht beurteilen, ob sich die Situation in den vergangenen Jahren grundlegend verändert hat.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Zum einen sind die im Beitrag genannten Schutzprogramme, die die Rückkehr der Wildtiere fördern, eine Maßnahme, mit der bestimmte Umweltprobleme gelöst werden sollen: Waldverjüngung, Bestandsregulation bei Beutetieren (wenn auch mit umstrittener Wirksamkeit), schwindende Biodiversität, Renaturierung von Feuchtgebieten.

Zum anderen werden auch Lösungsmöglichkeiten für die Probleme, die durch das „Comeback der Wildtiere“ entstehen, zumindest kurz angerissen. Dazu gehört der „Biber-Fonds“, aus dem Schäden beglichen werden können. Bei den Wisenten wird das Bestandsmanagement erwähnt, also dass die Herde beobachtet, gefüttert und klein gehalten werden soll.

Allerdings wird keines der Probleme und der zugehörigen Handlungsoptionen wirklich überzeugend herausgearbeitet; weder die Skepsis der Bevölkerung noch die ökologische Herausforderung stehen im Mittelpunkt des Beitrags.

So wäre es interessant gewesen, die ökologische Bedeutung der großen Wildtiere in deutschen Ökosystemen genauer zu analysieren und sich mit Strategien auseinanderzusetzen, wie mehr Wildtiere in Deutschland wieder angesiedelt werden können und welche Forschung dazu noch nötig ist.

Alternativ hätte der Beitrag, wie im einleitenden Absatz angedeutet die Widerstände gegen die Rückkehr der Wildtiere genauer analysieren können. Dann hätte der Text zum Beispiel die in Sachsen und Brandburg praktizierten Lösungswege, wie Schulung von Schäfern und Ausgleichsfonds für gerissene Nutztiere darstellen können. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Der Beitrag konzentriert sich auf Deutschland und verdeutlicht das Phänomen der Rückkehr großer Wildtiere hier anhand verschiedener Regionen und Tierarten. Zum Vergleich werden ganz kurz auch Naturräume in den USA und Polen herangezogen.

Die Ausführungen zu der Studie im Yellowstone Nationalparks sind im Gesamtzusammenhang des Beitrages ein nur lose verbundener Exkurs, der dann auch als nicht auf Deutschland übertragbar bezeichnet wird. („Von solchen Effekten ist Deutschland allerdings noch weit entfernt.“). Zu der US-Studie selbst erschien zuvor schon ein anderer Beitrag auf Spiegel online.

Interessant wäre es beispielsweise gewesen, zu erfahren, wie bedroht Wölfe, Luchse, Biber und Wisente als Arten sind, und welche Rolle dabei die deutschen Populationen im europäischen und globalen Maßstab spielen. Sehr befriedigend ist die räumliche Einordnung insgesamt nicht. Wir werten noch „knapp erfüllt“.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Der Artikel macht zwar klar, dass es sich um einen langfristigen Prozess handelt, dass die Veränderungen noch im Gang sind und sich die konkreten Auswirkungen erst nach und nach zeigen werden. So wird erwähnt, dass die Zahl der Wolfsrudel von Jahr zu Jahr steigt, dass es aber noch zu früh ist, um bestimmte Effekte zu erzielen.

Aber alle Zeitangaben bleiben dabei sehr vage. Nur an wenigen Stellen liefert der Beitrag dazu knappe Informationen: Es wird berichtet, dass der Wolf im Yellowstone Nationalpark „in den neunziger Jahren“ wiederangesiedelt wurde. In Deutschland „gibt es wieder mindestens 20 Wolfsrudel, und ihre Zahl steigt Jahr für Jahr an.“ „Vom Luchs, vor 150 Jahren fast ausgerottet, leben heute im Bayerischen Wald und im Harz knapp 40 Tiere.“ Leider erfahren die Leserinnen und Leser jedoch nichts darüber, wie sich die Rückkehr der Wildtiere über die Zeit entwickelt (siehe auch Kriterium 6), ob sie sich beschleunigt oder verlangsamt. Man erfährt beispielsweise nicht, ob die befragten Experten das Tempo der Entwicklung für ausreichend, zu langsam oder zu schnell halten. Ebenso unklar bleibt, ob die Widerstände zugenommen haben, oder ob sich über die Zeit ein Wandel in der Einstellung von Bevölkerung, Jägern und Bauern vollzogen hat. Da keiner der interessanten zeitlichen Aspekte, die sich hier anbieten, ausreichend herausgearbeitet wird, werten wir „nicht erfüllt“.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Beitrag spricht unterschiedliche Kontexte an, die allerdings jeweils nur sehr kurz gestreift werden. Das gilt beispielsweise für die politische Ebene und die nicht näher erläuterten „Renaturierungsauflagen der EU“. Beim Biber wird der finanzielle Aspekt kurz erwähnt (Ausgaben für den Biber-Fonds – Einsparungen bei der Renaturierung) ohne jedoch konkrete Zahlen zu nennen. Ob Ausgaben oder Einsparungen überwiegen, erfahren Leserinnen und Leser nicht. Auch an anderen Stellen fehlen Angaben zu den Kosten, etwa: Was bringt die Ökosystemleistung der Wildtiere, z.B. durch eine bessere Waldverjüngung? Oder: Welche Schäden befürchten Jäger durch die neue Konkurrenz in Form der Wildtiere? Auch zur Höhe der Kosten für den Naturschutz und die begleitende ökologische Forschung erfahren wir nichts. Die rechtliche Ebene wird ebenfalls nicht angesprochen: Wie sind die Rückkehrer durch Naturschutzgesetze erfasst? Was ist mit dem Jagdrecht? Auch fehlen Informationen zur politischen Einflussnahme von Lobbygruppen wie denen der Jäger oder Landwirte. Da nicht einer dieser Punkte exemplarisch herausgearbeitet wird, werten wir „nicht erfüllt“.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema Wildtiere in Deutschland hat eine hohe emotionale Relevanz und ist latent aktuell. Besonders in den Gebieten, in denen der Wolf wieder einwandert, ist eine Information der Öffentlichkeit nach wie vor wichtig – große Teile Deutschlands sind mittlerweile „Wolferwartungsland“. Durch die Veröffentlichung im Wissenschaftsmagazin „Science“ ist das Thema auch aus wissenschaftlicher Perspektive aktuell.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Das Thema wird anhand von konkreten Beispielen geschildert. Der angedeutet reportageartige Einstieg erleichtert den Zugang zum Thema, auch wenn unklar bleibt, ob diese Szene selbst beobachtet wurde, oder ob sie aus der Beschreibung des Experten stammt. Der Beitrag ist allgemeinverständlich formuliert, verwendet griffige Zitate und vermeidet weitgehend komplizierte Satzkonstruktionen und Fachbegriffe.

Mit einer Fotostrecke und mehreren interessanten Links zum Thema werden die Möglichkeiten des Mediums gut genutzt. Unterschiedliche Blickwinkel verschaffen dem Leser einen vielfältigen Eindruck. Der Beitrag ist daher leicht und gut lesbar.

Allerdings bleibt er recht oberflächlich, es gelingt nicht, das Thema über eine lockere Aneinanderreihung von Tierarten und die mit ihnen verbundenen positiven und negativen Wirkungen hinaus zu entwickeln. Insgesamt fehlt es an journalistischer Einordnung der aufgezählten Fakten. Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Bei den Bibern stimmt die genannte Bestandszahl von 15.000 Tieren nicht mit den Zahlen in den beiden anderen zum Beitrag verlinkten Dokumenten überein. Der direkte Link führt zu einem Artikel, der zwischen 6.000 Elbebibern und 15.000 Bibern anderer Unterarten unterscheidet. Eventuell ist es hier zu einer Verwechslung gekommen. Der neben dem Beitrag verlinkte Bericht geht sogar von mehr als 25.000 Bibern aus. Weitere Faktenfehler sind uns nicht aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 6 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar