Bewertet am 17. Januar 2014
Veröffentlicht von: Focus Online

Der Beitrag, erschienen bei Focus Online, berichtet über die radioaktive Belastung der Atmosphäre durch lange zurückliegenden Atomwaffentests. Er verwertet dabei im Wesentlichen eine Meldung der dpa und versieht diese mit einer neuen Überschrift und einem Vorspann. Unser wichtigster Kritikpunkt ist die irreführende Überschrift: Wo die dpa sachlich titelte „Plutoniumteilchen von Atomwaffentests der 1960er-Jahre noch in der Atmosphäre“, erweckt der neue Titel von Focus Online „Atomwaffentests verseuchen die Luft noch heute“ den Eindruck einer akuten Bedrohung. Dies widerspricht der Aussage des Beitrags und der zugrunde liegenden Studie.

Zusammenfassung

Die relevanten und durchaus überraschenden Ergebnisse einer Studie des Schweizer Bundesamtes für Bevölkerungsschutz werden in dem Artikel weitgehend verständlich und differenziert zusammengefasst. Einige Zahlen hätten indes noch besser erläutert werden können. Es wird deutlich, dass heute, 50 Jahre nach dem Verbot oberirdischer Atombombentests, in hohen Schichten der Erdatmosphäre noch immer radioaktive Spuren der Versuche zu finden sind. Die Konzentrationen sind offenbar höher, als man bislang annahm. Die Forscher gehen davon aus, dass die radioaktiven Partikel durch Vulkanausbrüche auch in niedrigere Luftschichten transportiert werden können. Dem Bericht und der zugrunde liegenden Fachveröffentlichung zufolge besteht dennoch keine Gefahr für die menschliche Gesundheit; hierzu fehlt indes eine Bestätigung oder kritische Stellungnahme aus einer zweiten Quelle. Während der nüchtern formulierte Beitrag sachlich die Ergebnisse der Messungen darstellt, erweckt die Überschrift eher den Eindruck, dass doch eine Gefahr besteht, ohne dass das im Beitrag durch weitere Recherchen untermauert würde. Eine zentrale Anregung unseres Gutachtens ist es daher, sorgfältiger und verantwortungsvoller mit Überschriften umzugehen.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Artikel stellt die Ergebnisse einer aktuellen Studie vor. Demnach befinden sich in den höheren Schichten der Erdatmosphäre deutlich höhere Konzentrationen radioaktiver Teilchen als bisher angenommen. Es wird über die Hypothese berichtet, dass diese durch Vulkanausbrüche auch in niedrigere Luftschichten gelangen können. Der Artikel stellt anfangs die Frage, wie gefährlich die ermittelten Werte seien. Am Ende weist er unmissverständlich darauf hin, dass keine Gefahr für die menschliche Gesundheit bestehe, da die Konzentrationen zu gering seien. Damit wird deutlich, dass zwar auch noch Jahrzehnte nach dem Ende der Ära der Atombombentests die Menschheit mit den Rückständen dieser Versuche zu leben hat, aber kein Grund zur Besorgnis oder gar Panik besteht. Diese Aussage des Artikels steht allerdings in eklatantem Widerspruch zur Überschrift, in der es heißt, dass die Rückstände der A-Bombentests „die Luft“ (worunter der Leser sicher die Atemluft versteht) „verseuchen“. Wer nur diese Überschrift liest, fürchtet womöglich radioaktiven Fallout durch 50 Jahre altes Material. Da der Beitrag aber ansonsten differenziert argumentiert, werten wir „knapp erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Artikel schildert sowohl die Ursachen für die gemessenen radioaktiven Teilchen als auch ihre unterschiedliche Verweildauer in der Troposphäre und der darüber liegenden Stratosphäre (ab gut zehn Kilometer über dem Erdboden). Er macht klar, welche bisherigen Annahmen durch neue Messungen korrigiert werden. Dabei wird deutlich, dass die Konzentration radioaktiven Plutoniums und Cäsiums in der Stratosphäre zwar stark abgenommen hat („um das 100-Fache geringer als noch 1974“), aber höher ist als bisher angenommen – und noch immer weit größer („um das 100.000-Fache“ bzw. „1000-fach so hoch“) als in Bodennähe. Der Beitrag unterscheidet klar zwischen den Ergebnissen von Messreihen einerseits und einer Hypothese andererseits. Hilfreich wäre es gewesen, wenn der Artikel außerdem erklärt hätte, warum bei einem „durchschnittlichen Verbleib von 2,5 bis 5 Jahren“ auch nach mehr als 50 Jahren überhaupt noch radioaktive Stoffe in der Stratosphäre zu finden sind.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Der Online-Beitrag benennt korrekt die wissenschaftliche Studie, auf die er sich bezieht, und nennt den Namen des hauptverantwortlichen Wissenschaftlers sowie des Instituts, an dem er arbeitet, das Schweizer Bundesamt für Bevölkerungsschutz. Allerdings belässt es der Beitrag dabei – eine weitere Quelle (etwa aus der wissenschaftlichen Literatur) wird nicht benannt, kein anderer, nicht mit der Studie befasster Forscher wird um eine Stellungnahme oder Einordnung gebeten.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Artikel stellt die Ergebnisse der Schweizer Studie differenziert dar. Es wird klar, welche Ergebnisse der neuen Studie alten Annahmen widersprechen. Da der Beitrag jedoch nur die Ergebnisse dieser einen Studie vorstellt, fehlt eine kritische Einordnung der Ergebnisse. Auch wird nicht recht deutlich, warum man bisher eine niedrigere Belastung der Stratosphäre vermutete. Letztlich bleibt die Frage offen, ob die Konzentrationen radioaktiver Substanzen darunter, also in der Troposphäre, tatsächlich so harmlos sind, wie die Schweizer Wissenschaftler es darstellen, oder ob es andere Meinungen dazu gibt. Ob es zur Bewertung der überraschenden Messergebnisse eine Kontroverse gibt, dazu hätte man – wenigstens in Ansätzen – gerne etwas erfahren. Daher werten wir „nicht erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Artikel wertet nicht nur die Pressemitteilung aus, sondern informiert auch über weitere Einzelheiten aus der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Veröffentlichung. So wird berichtet, wie sehr die Konzentration von Plutonium und Cäsium in der Stratosphäre die Messwerte am Boden übersteigen. Das Kriterium ist damit erfüllt.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Der Beitrag macht deutlich, dass die Belastung der Stratosphäre mit radioaktiven Rückständen aus Atombombentests lange bekannt ist, die aktuell gemessenen Konzentrationen radioaktiver Teilchen aber höher liegen als bislang angenommen. Auch die durch Beobachtungen gestützte Hypothese, dass radioaktive Teilchen aus hohen Schichten der Erdatmosphäre mit der Asche aus Vulkanausbrüchen in niedrigere Luftschichten vordringen können, hat Neuigkeitswert.

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Gegen radioaktive Teilchen aus früheren A-Bomben-Tests oder Satelliten-Unfällen in der Erdatmosphäre kann derzeit nichts mehr unternommen werden. Wir wenden dieses Kriterium daher nicht an.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Der Artikel berichtet, dass die überraschend hohen Konzentrationen radioaktiver Teilchen über der Schweiz gemessen wurden. Aufgrund der globalen Verbreitung der Rückstände aus A-Bomben-Tests über viele Jahre ist zwar zu vermuten, dass sich ähnliche Werte auch andernorts messen lassen und es sich daher um ein globales Problem handelt. Die Studie macht dazu aber keine Aussagen. Daher ist es korrekt, dass sich der Beitrag auf die Wiedergabe dieser räumlich begrenzten Ergebnisse beschränkt.

Zusätzlich werden die großräumigen, unerwarteten Auswirkungen des Ausbruchs eines isländischen Vulkans auf das Vorhandensein von radioaktiven Teilchen in niedrigeren Luftschichten weitab von Island thematisiert. Wir werten das Kriterium daher als erfüllt.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Der Artikel macht deutlich, welche Auswirkungen selbst Jahrzehnte zurückliegende A-Bomben-Tests und ein Unfall mit einem Plutonium-betriebenen Satelliten noch heute auf die Erdatmosphäre haben können. Er liefert damit gute Beispiele für die unterschätzten Folgen von A-Bomben-Tests und des Kalten Krieges. Es wird beschrieben, in welchen Zeiträumen der Plutonium-Gehalt der Konzentration von Plutonium in der Stratosphäre abnimmt („um das 100-Fache geringer als noch 1974“). Die Studie erwähnt zusätzlich, dass auch schwere Unfälle in Atomanlagen in jüngerer Zeit (Tschernobyl, Fukushima) zur radioaktiven Belastung der Stratosphäre beitragen. Dieser Hinweis fehlt im Artikel.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Es wird berichtet, dass die gemessenen radioaktiven Teilchen eine Folge von Atombombentests sind, und dass diese 1963 verboten wurden. Insofern ist hier die politische Dimension kurz angesprochen. Darüber hinaus erfahren Leserinnen und Leser nichts über einen politischen oder sozialen Kontext des Problems; dies erscheint in einem Bericht über die vorgestellte Studie aber auch nicht notwendig. Da es keine erkennbaren Lösungen oder Handlungsoptionen gibt, stellt sich hier auch nicht die Frage nach möglichen Kosten. Interessant wäre es noch gewesen zu erfahren, welchen Anlass es für das Schweizer Bundesamt für Bevölkerungsschutz gab, diese Messungen zu unternehmen.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema der radioaktiven Belastung der Erdatmosphäre ist relevant und aufgrund der neuen Schweizer Ergebnisse auch aktuell.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Die Ergebnisse der Studie werden nachvollziehbar, differenziert und weitgehend verständlich dargestellt. Unnötige Fachbegriffe werden vermieden, allerdings hätten einige Zahlen noch besser erläutert werden können. Der Stil ist nachrichtlich, allein die Überschrift ist reißerisch und misslungen. Wir werten „knapp erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Fehlerhafte Fakten sind uns nicht aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 7 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar