Bewertet am 11. November 2013
Veröffentlicht von: Frankfurter Rundschau
Wenn es in Deutschland zu einem schweren AKW-Unfall kommt, müssten ringsum mehr Menschen umgesiedelt werden als bisher geplant, berichtet die Frankfurter Rundschau und bezieht sich dabei auf eine Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz. Der Artikel legt dar, dass bei einer vergleichbaren Katastrophe wie in Fukushima die bisher vorgesehenen Notfallmaßnahmen nicht ausreichen könnten. Was eine Ausweitung der Katastrophenschutzzonen für die betroffenen Städte und Gemeinden bedeuten würde, wird im Beitrag nicht angesprochen.

Zusammenfassung

Der Artikel beschäftigt sich mit einer Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), die untersucht hat, wie viele Menschen von einem schweren Unfall in einem deutschen Kernkraftwerk betroffen wären. Den Ergebnissen der Studie nach müssten vor allem die Evakuierungszonen in Deutschland vergrößert werden, auch sollten weit mehr Menschen Jodtabletten schlucken als bisher vorgesehen ist. Die Strahlenschutzkommission (SSK) wird voraussichtlich entsprechend verschärfte Maßnahmen vorschlagen. Diese werden im Beitrag sachlich und ausführlich vorgestellt.

Das Thema ist hoch interessant und relevant; allerdings macht der Artikel nicht ausreichend klar, wie das BfS zu seinen Einschätzungen gekommen ist. Auch die Kosten, die durch neue Notfallpläne entstehen, berücksichtigt der Beitrag nicht. Eine etwas hölzerne, zum Teil fast im Behördenjargon gehaltene Sprache erschwert in einigen Passagen das Verständnis des Textes.

Hinweis: Unser Gutachten bezieht sich auf die Originalfassung des Artikels vom 05.11.2013. Dieser wurde 2019 von der FR aktualisiert.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Beitrag gibt sachlich wieder, dass Experten der Strahlenschutzkommission (SSK) die Folgen eines möglichen AKW-Unfalls für weitreichender halten, als in bisherigen Einschätzungen angenommen wurde. Es müssten daher u.a. größere Gebiete rings um einen havarierten Reaktor evakuiert werden. Auf die konkreten Risiken einer radioaktiven Verstrahlung geht der Artikel nicht detailliert ein; dass hohe Strahlendosen gravierende Folgen haben, wird als bekannt vorausgesetzt, lediglich Schilddrüsen-Schäden werden kurz ausdrücklich erwähnt.

Der Beitrag beschreibt die nötigen Evakuierungs- und Umsiedlungsmaßnahmen ohne emotionale Zuspitzung. Basis hierfür ist die vorliegende Studie „Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kernkraftwerke basierend auf den Erfahrungen aus dem Unfall in Fukushima“ des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Der Artikel schürt dabei weder Panik, noch verharmlost er das Problem eines schweren Atomunfalls.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Die Überschrift und der Text erklären, dass „mehr Menschen gefährdet“ seien, doch fehlt jede Information dazu, wie viele Menschen dies denn wären. Hier fehlen Zahlen, die zumindest exemplarisch für ein Atomkraftwerk (wie etwa für das an anderer Stelle als Beispiel genannte Philippsburg) deutlich machen, wie viele Menschen betroffen wären.

Vor allem aber erfahren Leserinnen und Leser fast nichts darüber, wie die SSK zu ihrer neuen Einschätzung kommt. Lediglich das Wort „Berechnungen“ taucht auf. In der Studie selbst ist die – tatsächlich komplizierte – Methodik ausführlich erläutert. Diese kann ein Zeitungsartikel sicher nicht im  Detail wiedergeben. Es wäre aber wichtig gewesen zu erfahren, dass es sich um Simulationen handelt, die aufgrund konkret gemessener Wetterdaten gemacht wurden. Erst am Ende des Artikels und im Zusammenhang mit dem Thema „langfristige Umsiedlungen“ ist beiläufig von der „Simulation eines Unfalls“ die Rede. Insgesamt aber wird nicht hinreichend deutlich, warum das Bundesamt für Strahlenschutz und in der Folge auch Experten der SSK zu anderen Einschätzungen kommen als bisher. Wir werden knapp „nicht erfüllt“.

3.EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Als Quelle der Studie wird das Bundesamt für Strahlenschutz genannt. Interessant wäre hier noch gewesen zu erwähnen, dass das BfS dem Bundesumweltministerium (BMU) unterstellt ist – eine Zuordnung, die bei diesem höchst politischen Thema wichtig ist. Etwas unklar bleibt im Text die Rolle der Strahlenschutzkommission, die noch nicht entschieden hat, ob sie zu einer Verschärfung raten wird. Für nicht vorinformierte Leserinnen und Leser ist es schwierig, solche Gremien einzuordnen. Hier wäre die Information nützlich gewesen, dass die Mitglieder der SSK vom BMU berufen werden und dieses Ministerium beraten.

Zitiert wird der SSK-Vorsitzende Wolfgang-Ulrich Müller, der an der Universität Essen in der Strahlenmedizin tätig ist. Interessenkonflikte werden nicht angegeben, sind für uns aber auch nicht ersichtlich. Der ebenfalls zitierte Jochen Stay wird als Sprecher des Anti-Atomnetzwerks „Ausgestrahlt“ vorgestellt und ist somit als Interessenvertreter erkennbar.

4.PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Die Ergebnisse der Studie des BfS werden genannt, wenn auch wichtige Fragen offen bleiben. So wird nicht klar, ob es sinnvoll wäre, eine 20-Kilometer-Zone statt einer 10-Kilometer-Zone schnell und womöglich dauerhaft zu evakuieren. Die BfS-Studie zeigt gerade, dass es stark von der Windrichtung und den geographischen Gegebenheiten abhängt, wie sich die Strahlung ausbreitet. Offen bleibt, welche anderen Positionen es noch gibt: Was spricht möglicherweise gegen eine Ausweitung der Evakuierungszonen? Wieso macht sich nur Deutschland „Gedanken in diese Richtung“? Wie kamen die bisherigen Evakuierungs-Regeln zustande?

Unklar bleiben auch die offenbar bestehenden Konflikte innerhalb der SSK. Hierzu heißt es nur vage: „Beim letzten Plenum hatte es dagegen noch Widerspruch gegeben“. Welche Argumente wurden dabei angeführt? Und welche „radiologischen Grundlagen“ lagen noch nicht vor und führten zur Verzögerung des SSK-Beschlusses?

Auch hätten die Überlegungen des BfS zu einer differenzierteren Notfallvorsorge für eine Vielzahl von Behörden und Verantwortlichen große Auswirkungen. Hierzu wäre es – bei allem beschränkten Platz – womöglich interessant gewesen, eine Stellungnahme der kommunalen Seite (Gemeindetag/Städtetag, oder ein konkret betroffener Landkreis) einzuholen, die sich auf neue Vorgaben einstellen müsste (siehe auch Kriterium 10).

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Es liegt eine Pressemitteilung von der Anti-Atom-Organisation „Ausgestrahlt“ vor, außerdem gibt es eine Kurzinformation auf der Seite des BfS. Die Pressemitteilung von „Ausgestrahlt“ bildet das Rückgrat des Artikels; zwei Passagen sind nahezu wortgleich aus der „Ausgestrahlt“-Pressemitteilung bzw. einem Hintergrundtext der Anti-Atomkraft-Organisation übernommen. Doch wurde darüber hinaus ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Strahlenschutzkommission geführt, der die Presse-Informationen von „Ausgestrahlt“ bestätigt und ergänzt.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Der Artikel macht klar, dass sich der Regulierungsvorschlag der SSK-Experten auf eine Studie des BfS bezieht, die aufgrund der Fukushima-Katastrophe erstellt wurde. Die verschärften Empfehlungen werden voraussichtlich „im nächsten Jahr“ verabschiedet. Die zeitliche Einordnung ist also gegeben. Zusätzlich wäre noch interessant zu erfahren, wann die neuen Regelungen in Kraft treten würden.

7. Der Beitrag nennt – wo möglich – LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Das Thema des Beitrag sind Handlungsoptionen im Fall eines AKW-Unfalls: Die Evakuierungszonen sollen ausgeweitet, Umsiedlungsaktionen geplant, der Vorrat an Jodtabletten soll erhöht werden. Darüber hinaus wird die Anti-Atom-Organisation „Ausgestrahlt“ mit der Forderung zitiert, die neun noch am Netz befindlichen AKW schneller abzuschalten als geplant.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Ausgehend von den Ereignissen in Fukushima betrachtet der Artikel die Situation in Deutschland. Es geht konkret um die Evakuierungszonen rund um deutsche Kraftwerke. Die räumliche Dimension wird insofern deutlich und ist ein zentrales Thema des Beitrags.

Exemplarisch wird die Situation um das AKW Philippsburg genannt: „In der BfS-Simulation eines Unfalls im AKW Philippsburg müssten laut ‚Ausgestrahlt‘ je nach Eingreifwert von 100, 50 oder 20 mSv Gebiete im Umkreis von bis zu 25, 52 oder 170 Kilometern dauerhaft geräumt werden.“ Letzteres ist allerdings nicht ganz korrekt und wurde offenbar ohne Prüfung aus der Pressemitteilung übernommen. Die Studie verlangt keine Evakuierung „im Umkreis“ von 170 km, sondern errechnet, dass der Wert von 20 Millisievert bis zu einer maximalen Entfernung von 80 Kilometern überschritten wird, und stellt eine „Richtwert-Überschreitung zusätzlich in einem isolierten Gebiet 110-170 km vom KKW entfernt“ fest.

Insgesamt hat die Studie ergeben, dass die Strahlenbelastung rund um ein AKW sehr unterschiedlich sein kann – eine Erfahrung, die um Fukushima auch schon gemacht wurde: Es gibt Gebiete, die näher am Unfallort liegen, aber weniger radioaktiv belastet sind als Gebiete, die komplett außerhalb der betrachteten Notfallzone liegen. Die BfS-Studie beschreibt dies an zwei Beispielen sehr präzise. Diesen interessanten Aspekt der Studie erwähnt der Beitrag nicht.

Wir werten dennoch „knapp erfüllt“.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Mit dem Hinweis auf Fukushima, die Begründung für die BfS-Studie und die Erörterung der daraus abgeleiteten Diskussionen auf politischer Ebene (Beschluss der Innenministerkonferenz erforderlich) wird der zeitliche Bezugsrahmen deutlich.

Die zeitliche Dimension spielt darüber hinaus in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. So geht es um Szenarien, bei denen „wie im Fall Fukushima radioaktive Stoffe über einen längeren Zeitraum freigesetzt werden“. Es wird berichtet, wie schnell die entsprechenden Zonen evakuiert sein müssen (in 6 bzw. 24 Stunden), und dass „langfristige Umsiedelungen“ vorgeschrieben werden sollen. Allerdings bleibt dies recht abstrakt und technisch formuliert. So ist zwar von „Eingreifwerten“ die Rede, jedoch nicht davon, wie lange es voraussichtlich dauert, bis die Menschen in ihre Häuser zurückkehren dürfen bzw. ob dies überhaupt möglich ist.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT(z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Eine Ausweitung von Evakuierungszonen, die Vorhaltung von deutlich mehr Jodtabletten, die Notwendigkeit, auch in Landkreisen eine Notfallplanung zu machen, die bisher davon ausgenommen sind, bringen hohen Organisationsaufwand und Kosten mit sich. Diese werden im Beitrag nicht erwähnt. Auch wird der soziale und politische Kontext nicht einbezogen. Was würden die neuen Empfehlungen für Städte und Gemeinden bedeuten? Was heißt es für die betroffen Bürger – werden sie informiert und vorbereitet?

Am Ende schlägt der Artikel zwar noch einen Bogen zur Energiewende, doch wirkt dieser sehr konstruiert. Der Zusammenhang dieses Aspekts mit dem Thema Evakuierung und Strahlenbelastung bleibt vage.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Zwar liegt die Studie des Bundesamts für Strahlenschutz vom  April 2012 (und eine Erweiterung des Themas im Jahresbericht des BfS 2012) schon länger vor. Doch da die Strahlenschutzkommission derzeit über eine Veränderung der Kriterien für den Notfallschutz diskutiert und eine Entscheidung ansteht, ist das Thema aktuell. Auch bleibt es trotz Atomausstieg bedeutsam, weil zum einen neun Atomkraftwerke weiterlaufen sollen (zum Teil bis zum Jahr 2022), und weil einige Grenzregionen zu Tschechien, Frankreich und Belgien ebenfalls nicht weit von Atomkraftwerken entfernt liegen. Unfälle sind selten, aber wenn sie eintreten mit sehr schwerwiegenden Auswirkungen verbunden. Die Frage, wie der Katastrophenschutz darauf vorbereitet ist, ist daher von hoher Relevanz.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Text ist im Großen und Ganzen nachvollziehbar und hat, mit Ausnahme des letzten Absatzes, der etwas nachgeschoben wirkt, einen stringenten Aufbau. Er ist dabei allerdings sehr trocken und nüchtern geschrieben, enthält z.T. typischen Behördenjargon („Eingreifwert“) , viele Substantivierungen, die das Verständnis erschweren („…die Konsequenzen aus einer Neubewertung des Risikos der Ausbreitung der Strahlung…“ ; „Beschlossen werden müsse die Ausweitung…“). Da außerdem die im Titel angekündigte Information darüber fehlt, wie viele Menschen denn nun (mehr) gefährdet sind, werten wir knapp „nicht erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Uns sind, außer der bei Kriterium 8 genannten Ungenauigkeit, keine Faktenfehler aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 7 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar