Bewertet am 6. November 2013
Veröffentlicht von: taz - die tageszeitung
Die taz berichtet, dass eine deutsche Behörde die in der EU zulässigen Werte für den Stoff Perchlorat in Obst und Gemüse als zu hoch kritisiert und vor möglichen Gesundheitsrisiken warnt. Doch wird im Beitrag nicht ausreichend erläutert, auf welcher Datenlage diese Bewertung beruht. Auch erfahren Leserinnen und Leser nicht, welche Mengen mit Perchlorat belasteter Lebensmittel problematisch sein könnten.

Zusammenfassung

Der Artikel berichtet über eine Stellungnahme des  Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) zu Perchlorat in Lebensmitteln. Das BfR hält die von der EU-Kommission festgesetzten Referenzwerte für ungeeignet, Verbraucher ausreichend vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu schützen. Beim Verzehr großer Portionen von Obst- und Gemüseerzeugnissen, die solche Mengen Perchlorat enthalten, könne die Aufnahme von Jod in die Schilddrüse gehemmt werden, was insbesondere für Säuglinge und Schwangere sowie Personen mit Schilddrüsenerkrankungen kritisch sein könne. Der Beitrag greift diese Warnung auf, ohne aber die Einschränkungen und methodischen Unsicherheiten zu beschreiben, die in der Stellungnahme genannt sind. Der Beitrag zieht keine weitere Quelle heran; er erläutert nicht, auf welcher Grundlage die bisherigen Referenzwerte festgelegt wurden, und welche Interessen hier eine Rolle spielen. Wie hoch das Risiko durch Perchlorat tatsächlich ist, und welche Handlungsoptionen es für Verbraucherinnen und Verbraucher gibt, wird nicht deutlich.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat in einer Stellungnahme vom Juli 2013 festgestellt, dass die vorläufigen EU-Referenzwerte für die Chemikalie Perchlorat bei einigen Obst- und Gemüsearten so hoch liegen, dass es „bei einmaligem Verzehr großer Portionen gesundheitlich unerwünschte Wirkungen“ geben kann. Da diese Bundesbehörde unserer Erfahrung nach eher nicht zu übertrieben alarmistischen Warnungen neigt, ist dies ein ausreichender Anlass, über das Problem zu berichten.

Allerdings beschränkt sich der Beitrag allein auf die Darstellung möglicher Gefahren für die Verbraucher, ohne die Einschränkungen zu erwähnen, die das BfR mit seiner Stellungnahme verbindet (siehe dazu Kriterium 2). Da es an jeglicher Einordnung der Informationen fehlt, und Leserinnen und Leser auch nicht erfahren, welche Mengen belasteter Lebensmitteln bedenklich sind, ist der Beitrag geeignet, erhebliche Verunsicherung hervorzurufen. Womöglich zieht mancher den Schluss, künftig weniger Obst und Gemüsen zu essen – was nach Angaben des BfR keineswegs angemessen wäre.

Die Sprache des Beitrag ist zwar weitgehend sachlich, doch werten wir wegen der Darstellung, die einseitig nur über die Risiken berichtet, „knapp nicht erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Es wird eine Reihe von Zahlen und Fakten benannt, die aus der Stellungnahme des BfR stammen. Diese werden ohne jede Erläuterung wiedergegeben. Dabei wird der einmalige Verzehr großer Portionen bestimmter Lebensmittel als problematisch eingestuft – doch erläutert der Beitrag nicht einmal exemplarisch, was unter einer „großen Portion“ zu verstehen ist.

Alle einschränkenden Informationen, die die BfR-Stellungnahme enthält, fallen im Beitrag unter den Tisch, und die Unsicherheiten der Datenlage werden nicht thematisiert: Leserinnen und Leser erfahren nicht, dass die Warnung des BfR auf nicht repräsentativen Untersuchungen basiert, und dass laut BfR „keine Originalstudien zur toxikologischen Beurteilung von Perchlorat“ vorliegen.

Problematisch ist auch die Formulierung, ein Kilogramm  Lebensmittel dürfe derzeit „bis zu 1 mg pro Kilogramm Perchlorat enthalten“ – dieser Wert in der BfR-Mitteilung bezieht sich nur auf wenige Gemüsesorten. Das Risiko wird insgesamt nicht eingeordnet, obwohl das BfR in seiner Stellungnahme verdeutlicht, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung nur „möglich“ (also unterhalb von „wahrscheinlich“) ist, und im Falle ihres Eintretens „leicht“ und „reversibel“ wäre.

Zudem enthält der Beitrag fachliche Ungenauigkeiten. So gibt es noch keine „EU-Grenzwerte“ für Perchlorat, diese werden derzeit von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erst erarbeitet. Bisher gelten so genannte „Referenzwerte“, die von der EU-Kommission vorläufig festgelegt wurden.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Es wird deutlich, dass die Zahlen im Beitrag aus der Stellungnahme eines Bundesinstituts stammen. Besondere Interessenkonflikte sind hier nicht unbedingt zu erwarten. Zu kritisieren ist jedoch, dass das BfR die einzige Quelle des Artikels bleibt. Andere Experten werden nicht befragt. So wurde weder eine Stellungnahme der EU-Gremien eingeholt, die die kritisierten vorläufigen Referenzwerte festgelegt haben, noch die Einschätzung eines unabhängigen Experten zu diesen Werten und möglichen Gesundheitsrisiken. Wegen des Fehlens einer zweiten Quelle werten wir „nicht erfüllt“.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Zwar erfahren Leserinnen und Leser, dass es eine Kontroverse um die zulässige Belastung von Lebensmitteln mit Perchlorat gibt: Die EU-Kommission hat vorläufige Werte beschlossen, das BfR hält diese für zu hoch. Doch werden die Gründe für das Für und Wider nicht deutlich, obwohl das Thema durchaus Stoff für die Darstellung unterschiedlicher Standpunkte und Interessen bietet: Wenn das BfR im Sommer 2013 strengere Grenzwerte fordert, während die EFSA dazu einen Studie erarbeitet, die im Dezember fertiggestellt sein soll, geht es mutmaßlich auch darum, eine niedrigere Festsetzung auf EU-Ebene zu bewirken. Doch wer in der EU fordert höhere Grenzwerte und warum? Welche Interessen spielen hier eine Rolle, wer sonst möchte möglicherweise auf den Bericht der EFSA Einfluss nehmen? Zu diesen Hintergründen fehlen jegliche Informationen.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Es liegt eine Pressemitteilung vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu Perchlorat-Rückständen in Obst und Gemüse vom 18.6.2013 vor (Link nicht mehr verfügbar). Darüber hinaus nutzt der Beitrag die dort verlinkte „Empfehlung des BfR zur gesundheitlichen Bewertung von Perchlorat-Rückständen in Lebensmitteln“ vom 6. Juni 2013 sowie eine aktualisierte Stellungnahme des BfR vom 9. Juli 2013. Damit geht der Beitrag formal über die Pressemitteilung hinaus. Da aber keine zweite Quelle im eigentlichen Sinne (siehe auch Kriterium 3) einbezogen wurde, die nicht zum unmittelbaren Umfeld der Pressemitteilung gehört, werten wir nur „knapp erfüllt“.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Der Beitrag geht nicht darauf ein, wie lange das Problem von Perchlorat in Lebensmitteln bereits bekannt ist. Aus der BfR-Stellungnahme geht aber hervor, dass es eine Vorgeschichte gibt. Offenbar haben sich zumindest in den USA schon diverse Behörden damit beschäftigt, ebenso gibt es auf internationaler Ebene Bewertungen des „Joint FAO/WHO Expert Committee on Food Additives“. Der Beitrag erwähnt solche Aspekte nicht. Wann genau das BfR zu dem Thema aktiv geworden ist, geht aus dem Text ebenfalls nicht hervor. Zudem bleibt unklar, dass es sich um eine BfR-Stellungnahme vom Juli 2013 handelt, und warum darüber erst im Oktober 2013 berichtet wird.

7. Der Beitrag nennt – wo möglich – LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Implizit wird klar, dass das BfR niedrige Grenzwerte als Lösungsweg sieht. Wie geringere Perchlorat-Gehalte tatsächlich zu erreichen wären, kann der Beitrag nicht angeben, da nicht bekannt ist, wie die Chemikalie genau in Lebensmittel gerät („noch ist nicht abschließend geklärt, wie der Stoff in Lebensmittel gelangt“).

Doch wäre es bei diesem Thema wichtig gewesen, Leserinnen und Lesern Handlungsoptionen zu bieten. Welche Lebensmittel sollte man meiden bzw. nicht „in großen Portionen“ verzehren? Hilft gründlicheres Waschen von Gemüse weiter? Ist die Belastung bei Bio-Lebensmitteln geringer oder nicht? Wer den Beitrag liest, kann nicht einschätzen, ob und unter welchen Voraussetzungen er gefährdet wäre, und wie er sein Risiko minimieren kann.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Das Problem wird zunächst im Inland, wegen der Herkunft von Obst und Gemüse als internationales Problem sowie auch als europäische Regelungsfrage verortet. So wird berichtet, dass die Chemikalie “in diversen Lebensmitteln aus mehr als 15 Herkunftsländern gefunden“ wurde.

Eine interessante Zusatzinformation wäre noch gewesen, wo in Deutschland die belasteten Lebensmittel gefunden wurden, beziehungsweise, ob das Problem bundesweit gleich verteilt ist, oder ob bestimmte Regionen besonders betroffen erscheinen.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Es fehlen alle Informationen über die bisherige Entwicklung, z.B. darüber wie lange das Problem schon bekannt ist, und wann die EU-Kommission Referenzwerte festgelegt hat. Als einziger zeitlicher Aspekt findet sich der Verweis auf das Erscheinen der EFSA-Studie im Dezember 2013. Wie lange es danach dauern könnte, bis Grenzwerte festgesetzt werden, erläutert der Beitrag nicht.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT(z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Welche wirtschaftlichen Interessen im Spiel sind, welche Kosten strengere Grenzwerte und entsprechende Kontrollen nach sich ziehen könnten, spricht der Beitrag nicht an. Auch fehlt jede Information, ob neben der möglichen Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit auch weitere Umweltschäden, etwa ein Einfluss auf Tiere und Pflanzen, zu erwarten sind.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Im Beitrag ist zwar kein aktueller Anlass erkennbar, da die Stellungnahme des BfR schon im Sommer 2013 entstand. Allerdings wurde diese erst im Oktober 2013 auf der Website des BfR veröffentlicht, und das Thema beschäftigt aktuell Behörden und Gremien in der EU. Auch ist das Thema angesichts der großen Zahl potenziell betroffener Menschen ohne Zweifel relevant.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Beitrag nennt Fakten, ohne diese wirklich verständlich zu machen und einzuordnen. Dafür wäre durchaus Raum gewesen, da der Text in Teilen Informationen unnötig wiederholt. So wird – wie schon bei den anderen Kriterien angemerkt – zweimal zitiert, dass der „Verzehr großer Portionen“ belasteter Obst- und Gemüseerzeugnisse problematisch sei, ohne einmal anhand von Beispielen zu erläutern, was darunter zu verstehen ist. Was es mit der „Analyse von Mischproben“ auf sich hat, wird sich vielen Leserinnen und Lesern ebenfalls nicht erschließen, zumal hier fälschlich der Eindruck erweckt wird, das Problem bestehe in der unterschiedlichen Belastung einzelner Sorten. Insgesamt liest sich der Text nicht rund, es fehlt an einem roten Faden.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Faktenfehler sind uns, über die genannten Ungenauigkeiten hinaus, nicht aufgefallen.

Umweltjournalistische Kriterien: 2 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar