Bewertet am 25. Juni 2013
Veröffentlicht von: Spiegel Online
Der Artikel, der auf „Spiegel online“ erscheint, beschäftigt sich anlässlich des jüngsten Hochwassers mit der Frage, wie Deutschland sich künftig vor solchen Fluten besser schützen könnte. Verschiedene technische Ansätze werden mit ihren Vorteilen und Problemen vorgestellt.

Zusammenfassung

Der informative Beitrag beschreibt verschiedene technische Ansätze – von Rückhaltebecken über Deiche bis zur Schaffung von Überflutungsflächen – die dazu beitragen sollen, künftig Hochwasserkatastrophen zu verhindern oder zumindest zu verringern. Es werden Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Optionen erläutert, auch mit Blick darauf, warum Etliches noch nicht umgesetzt wurde. Dabei kommt eine ganze Reihe von Experten unterschiedlicher Institutionen und Fachgebiete zu Wort. Etwas ausführlicher hätten methodische Fragen dargestellt werden können, und nicht immer wird klar, worauf Prozentzahlen sich genau beziehen. Auch nähere Angaben zu wirtschaftlichen Aspekten wäre für Leserinnen und Leser interessant gewesen.

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Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Kenntnisse über die katastrophalen Ausmaße des Hochwassers werden vorausgesetzt, was bei diesem weithin bekannten, in den Medien sehr präsenten Thema zulässig ist. Die Schäden werden weder dramatisiert noch verharmlost. Während sonst vielfach von einer Jahrhundertflut (ohne Anführungszeichen) die Rede ist, wird hier sachlich formuliert, statt Katastrophenszenarien auszumalen.

Verschiedene Maßnahmen, die solche Überschwemmungen künftig eindämmen könnten, werden zwar mit einem gewissen Technikoptimismus vorgestellt, etwa wenn es heißt, es ginge um die Frage wie sich Jahrhundertfluten „endlich vermeiden lassen“. Doch wird gleichzeitig deutlich, dass es sich um „Ideen“ und Pläne handelt, die das Ausmaß der Flut verringern und Ortschaften „vor dem Schlimmsten bewahren“ sollen, nicht um Patentlösungen, die Hochwasserkatastrophen künftig ganz verhindern könnten.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Beitrag beschreibt eine Reihe verschiedener Berechnungen und geplanter Maßnahmen, stellt methodische Aspekte jedoch sehr knapp dar. So wird bei den Erkenntnissen des Berliner Hydrologen Achim Schulte über den Effekt kleinerer Rückhaltebecken im Erzgebirge kurz angemerkt, dass hier eine Computersimulation zugrunde liege. (Näheres siehe  z.B. „Modellierung dezentraler Hochwasserrückhaltemaßnahmen“ und „Potenziale des dezentralen Hochwasserrückhalts im Mittleren Erzgebirge“ (Link nicht mehr verfügbar))

Wenig aussagekräftig sind Maximalwerte, wie die Angabe, Hochwasserwellen ließen sich mit (in ihrer Größe nicht näher bestimmten) Rückhaltebecken „um bis zu 40 Prozent“ verkleinern. Hier wäre interessanter gewesen, wie groß der mittlere Effekt ist, oder für wie viele Orte merkliche Verbesserungen zu erreichen wären.

Bei anderen Zahlen fehlen Angaben, wie diese zustande kamen. (Worauf bezieht sich beispielweise die Aussage, die Elbe habe „fast 90 Prozent ihrer natürlichen Flutungsflächen verloren“? (Siehe dazu auch Kriterium 9. “Zeitliche Dimension“). Daher werten wir knapp „nicht erfüllt”.

3.EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Der Text beruht offenbar weitgehend auf Gesprächen mit Experten, die nachvollziehbar wiedergegeben werden. Es werden diverse Fachleute zitiert, die akademischen Institutionen und Naturschutzorganisationen (WWF, „Stiftung Living Rivers“) zugeordnet sind. Wünschenswert wäre es, auch bei dem zitierten Karl Wantzen an der Université Francois Rabelais zu erfahren, welches Fachgebiet er vertritt. Besondere Interessenkonflikte werden nicht angesprochen, sie sind aber nach unseren Recherchen auch nicht gegeben.

4.PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Es gibt zu den verschiedenen Vorschlägen keine direkte Gegenrede. Dennoch wird deutlich, dass alle genannten Ansätze für den Hochwasserschutz nicht unumstritten sind: Gegen Rückhaltebecken gibt es Einsprüche betroffener Bürger, die Steuerung der Anlagen ist „nicht einfach“, auch ist die Technik hauptsächlich für kleinere Flusssysteme erfolgversprechend („Für die großen Ströme wie Elbe, Rhein und Donau bedarf es also anderer Lösungen.“). Die Einrichtung von Poldern führt zu Rechtsstreitigkeiten. Hier wäre ein Hinweis angebracht, dass solcher Widerstand zumindest nachvollziehbar ist, z.B. weil mit der Überflutung auch Schadstoffe eingetragen werden können. Stabile Deiche seien einerseits wichtig, etwa für den Schutz dichtbesiedelter Gebiete am Rhein, heißt es im Text, andererseits stoße der Deichbau an technische Grenzen und verlagere das Problem stromabwärts („Magdeburg wurde nun so hoch geflutet, weil die Deiche im Oberlauf diesmal standhielten.“). Auch wenn die Vor- und Nachteile der verschiedenen Ansätze noch deutlicher gemacht werden könnten, werten wir „erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Eine konkrete Pressemitteilung zu diesem Beitrag haben wir nicht gefunden. Der Artikel beruht offensichtlich auf einer umfangreichen Recherche und Gesprächen mit Experten unterschiedlicher Fachrichtungen.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Die Forschungsergebnisse des Berliner Hydrologen Achim Schulte sind zwar schon einige Jahre alt; trotzdem ist es legitim, die Erkenntnisse immer noch als relativ neu einzustufen, weil der Weg in die Praxis offenbar noch bevorsteht. Andere Forderungen bezüglich der Höhe von Deichen, deren Verlagerung ins Landesinnere und der Bereitstellung von Überschwemmungsflächen sind im Prinzip bekannt. Es wird hinreichend deutlich, dass diese Vorschläge nicht neu sind, aber nur zögerlich umgesetzt werden.

7. Der Beitrag nennt – wo möglich – LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Handlungsmöglichkeiten zum Umgang mit extremen Hochwasserereignissen sind das Thema des Textes. Er spricht auch in allgemeiner Form an, warum manche z.T. schon lange auf dem Tisch liegenden Vorschläge nicht oder nur langsam umgesetzt werden.

Dass die Lösung solcher Probleme in einem Ausgleich von Interessen bestehen könnte (etwa eine finanzielle Kompensation, wenn Landwirte sich dem Bau von Rückhaltebecken oder Poldern widersetzen), bleibt dabei außen vor. Dennoch ist das Kriterium weitgehend erfüllt.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Der Text macht deutlich, dass es sich um ein weiträumiges Problem handelt. So schützen Deiche einerseits, wirken sich andererseits aber nachteilig auf entfernte, flussabwärts gelegene Gebiete aus. Dass hier verschiedene Regionen, Bundesländer und auch Staaten zusammenarbeiten müssten, wird als zusätzliches Problem deutlich.

Bei einigen Ortsangaben dürfte der Text indes noch genauer sein: So bleibt unklar, wo genau eigentlich die von dem Hydrologen Achim Schulte vorgeschlagenen Rückhaltebecken angelegt werden sollen. So heißt es, die Wassermassen könne man „bereits dort stoppen, wo sie entspringen – im Gebirge“. Das ist unplausibel, da eine unmittelbare Nähe zur Quelle suggeriert wird, wo sich solche Wassermassen noch gar nicht angesammelt haben können. Auch könnte deutlicher werden, dass die Herausforderung darin besteht, Maßnahmen zu entwickeln, die auf spezielle Regionen, Vegetations- und Besiedlungsformen zugeschnitten sind.

Wie andere Länder mit der Hochwassergefahr umgehen, wird im Beitrag mit dem Hinweis auf ein Verbot von Neubaugebieten in Überschwemmungsgebieten in Frankreich zumindest kurz angesprochen.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Zentral ist der Vergleich des gegenwärtigen Hochwasser mit der Flut von 2002. Es wird einerseits angesprochen, dass es seitdem Verbesserungen gegeben habe, etwa die frühzeitige Vorhersage der Regenmassen. (Hier fehlt allerdings der Hinweis, dass Evakuierungen für die Betroffenen dennoch oft sehr kurzfristig kamen, etwa aufgrund von drohenden Deichbrüchen.) Andererseits wird berichtet, dass früheren Ankündigungen der Politik, zur Vermeidung von Hochwassergefahren Überflutungsflächen zu schaffen, seither wenige Taten gefolgt sind. („Die politische Aktivität lässt nach einer Hochwasser-Katastrophe jedoch schnell nach.“)

Einige zeitliche Angaben bleiben allerdings im Ungefähren, etwa wenn es heißt, künstliche Becken könnten das Wasser im Ernstfall „eine Zeitlang“ zurückhalten. Ähnliches gilt für die Aussage, alle an der Elbe geplanten und durchgeführten Deichrückverlegungen machten nur noch „ein Prozent der einstigen Überflutungsflächen“ aus. Was ist mit „einstig“ gemeint? Zustände wie im Mittelalter, im 19. oder 20. Jahrhundert?

Das Kriterium ist daher nur „knapp erfüllt.“

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Text beschreibt, neben den technischen Maßnahmen zum Hochwasserschutz, auch knapp die Umstände, die ihrer Realisierung entgegenstehen (politische Zuständigkeiten, Widerstand, Besitzverhältnisse). Es fehlt jedoch eine nähere Auseinandersetzung mit den politischen, wirtschaftlichen, juristischen und sozialen Rahmenbedingungen. Insbesondere fehlen Informationen zu Kosten der vorgestellten Ideen und zu den wirtschaftlichen Folgen für Anrainer und Landwirte (auch im Vergleich zum „Millionenschaden“ durch die Flut von 2002). Wenn es zum Wiederstand gegen  Polderflächen heißt „‘Doch keiner will sein Land verkaufen‘, erläutert der Umweltexperte“, fehlt der Hinweis, dass dies auch eine Frage des gebotenen Preises sein könnte. Ein Gutachterin merkt an, dass die Perspektive der Betroffenen hier stärker zu berücksichtigen gewesen wäre.

Da in solchen Kontexten, insbesondere wirtschaftlichen Aspekten, das eigentliche Konflikt- und Lösungspotential steckt, werten wir knapp nicht erfüllt.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema ist relevant und brandaktuell – das Wasser ist zum Zeitpunkt der Begutachtung noch nicht abgeflossen. Auch handelt es sich um einen der wenigen Beiträge über die Hochwasserkatastrophe, der verschiedene technische Maßnahmen zum Hochwasserschutz nebeneinander vorstellt und dazu eine Vielzahl von Experten befragt; insofern ist ihm auch eine gewisse Originalität zu attestieren.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Text ist weitgehend verständlich und gut lesbar– die wesentlichen Effekte der vorgestellten Maßnahmen zum Hochwasserschutz sowie deren Vor- und Nachteile werden deutlich.

Allerdings erläutert der Beitrag nicht jeden technischen Aspekt so, dass er für Laien verständlich wird. Vage bleibt etwa die genaue Funktionsweise der Rückhaltebecken: Einerseits soll „der Rübenauer Bach in einem Rohr durch eine Mauer geleitet“ werden, und wenn er nicht mehr durch dieses Rohr passe, an der Mauer vorbei in ein Rückhaltebecken. Andererseits heißt es “Man sollte den Höhepunkt des Hochwassers abfangen und das Becken nicht vorher schon gefüllt haben.” Wie das gelingen kann, erschließt sich beim Lesen nicht. Hier wäre vielleicht eine Grafik hilfreich gewesen.

Auch wird nicht erklärt, warum breitere Flüsse den Grundwasserspiegel „durch Wasserstau im Untergrund“ steigen lassen. Wo liegen hier die Probleme, deren Folgen die Orte abwägen sollen? Wir werten daher nur „knapp erfüllt“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Wesentliche Faktenfehler haben wir nicht gefunden. Etwas sehr zugespitzt ist allerdings die Aussage, Seehofer habe „Landwirten, die sich dem Hochwasserschutz widersetzen, mit Enteignung“ gedroht. Tatsächlich hat er angekündigt, prüfen zu lassen, ob es für eine solche Enteignung eine Rechtsgrundlage gäbe. Allerdings wurde dies in der Landwirtschaft wohl z.T. als Drohung empfunden.

Umweltjournalistische Kriterien: 8 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar