Bewertet am 24. Mai 2013
Veröffentlicht von: Die Welt
Der Beitrag, erschienen in der Tageszeitung Die WELT, befasst sich anlässlich einer aktuellen Studie mit der Frage, ob und wie das Überleben bedrohter Tigerbestände in freier Wildbahn gesichert werden kann. Er kommt zu einer sehr pessimistischen Prognose, ohne dies ausreichend zu belegen.

Zusammenfassung

Der Beitrag berichtet über die Bedrohung des Tigers, ein wichtiges, dauerhaft aktuelles Thema. Denn Tiger sind auch eine ‘flagship species’ des internationalen Artenschutzes. Leserinnen und Leser erhalten dazu viele, oft detaillierte Informationen – etwa darüber, dass die genetische Verarmung und Inzucht ein Problem für den Erhalt der freilebenden Tiger darstellen könnten.

Die Auswertung der beiden im Zeitungsartikel erwähnten Fachpublikationen erfolgt indes einseitig unter der Annahme, dass der Tiger unausweichlich aussterben wird. Dies widerspricht den Aussagen und Intentionen der Fachaufsätze, die sich u.a. mit unterschiedlichen Konzepten für den Schutz des Tigers befassen. Für die im Zeitungsartikel mehrfach wiederholte Behauptung, dass alle Schutzmaßnahmen letztlich vergeblich sein werden, werden keine Belege beigebracht. Informationen aus den Fachpublikationen, die der These vom unausweichlichen Aussterben widersprechen, blendet der Beitrag aus, ebenso Diskussionen zu anderen kontroversen Aspekten, wie den genauen Ursachen der Bedrohung.

Zwar vermittelt der Beitrag auf der einen Seite den Eindruck, man werde ausgesprochen kompetent informiert, auf der anderen Seite fehlt es für eine Vielzahl von Behauptungen an Quellenangaben. Weder kommen Wissenschaftler oder andere Experten (z.B. von Naturschutzorganisationen) zu Wort, noch wird aus den erwähnten Publikationen ausführlicher zitiert. Viele Aussagen sind gar nicht zuzuordnen. In dieser Form hinterlässt der Artikel am Ende Ratlosigkeit.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Artikel stellt faktenreich und sprachlich meist nüchtern die Situation der letzten in der Wildnis vorkommenden Tiger dar. Er dokumentiert die niedrigen Schätzungen über ihre Anzahl, nennt Gründe für das Schwinden der Bestände und die genetische Verarmung und erwähnt die internationalen Bemühungen um ihren Erhalt. Beide im Artikel erwähnten Fachveröffentlichungen stimmen darin überein, dass der Tiger vom Aussterben bedroht ist, und dass verstärkte Anstrengungen für seinen Schutz nötig sind.

Doch der Artikel geht darüber hinaus: Sowohl im Titel „Abschied vom Tiger“ wie im Text stellt der Autor das Aussterben als unausweichlich dar. Er spricht vom „finalen Todesstoß für die letzten Tiger“, behauptet, dass die internationale Tiger-Konferenz 2010 nichts an der Lage ändern konnte, um schließlich festzustellen, dass es mit der jüngsten Veröffentlichung „zur Gewissheit“ geworden sei, dass die Tiere bald nur noch als „animierte Reklame-Raubkatzen“ durch unsere Phantasie streifen. Dies entspricht nicht dem Inhalt der Fachveröffentlichungen, auf die sich der Zeitungsartikel bezieht. Darin machen die Autoren u.a. darauf aufmerksam, dass sich die Tigerbestände in den vergangenen Jahren leicht erholt haben.

Zwar ist dies kein Grund zur Entwarnung angesichts der extrem niedrigen Bestandszahlen und der festgestellten Inzuchtprobleme. Aber keiner der beiden wissenschaftlichen Artikel geht davon aus, dass der Tiger aussterben muss, sondern es werden Strategien für seine Erhaltung diskutiert. Mit seiner alarmierende Prognose weicht der Beitrag ohne erkennbaren Grund davon ab. Wir werten daher „nicht erfüllt“.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Die Aussagekraft der Zahlen und Fakten zur Gefährdung der Tiger im Artikel wird nur teilweise deutlich, zumal die Quellen bei etlichen Angaben nicht genannt werden (siehe dazu 3. „Experten/ Quellentransparenz“). Sinnvoll wäre es beispielsweise gewesen, die aktuelle Zahl der Tiger in Indien („1700 Tiere“) in Bezug zu der im Jahr 2009 (1400) zu setzen. Auch wird der wissenschaftliche Disput zum Vorgehen zur Rettung der Tiger nicht differenziert genug dargestellt, (siehe dazu 4. „Pro und Contra“). Für die zentralen Aussage des Textes, die Art werde unweigerlich aussterben (Unterzeile: „In einem Jahrzehnt dürfte die Raubkatze, so prognostizieren Wissenschaftler, in freier Wildbahn ausgerottet sein“), bleibt die Evidenz unklar. Wir werten „knapp nicht erfüllt“.

3.EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Während sich der Artikel ausführlich mit zwei Veröffentlichungen befasst, bestehen andere Teile des Artikels aus Behauptungen ohne jede Quellenangabe. So bleibt unklar, auf wen sich der Beitrag mit der Unterzeile beruft (siehe auch „Belege/ Evidenz“). Formulierungen, wie „nach aktuellen Hochrechnungen“ und „jüngsten Zählungen“ oder „so wird ernsthaft befürchtet“ lassen die Quellen offen. Unvermittelt tauchen „die Forscher“ auf, die im Fachjournal „Plos Biology“ schreiben – doch wer sind sie und wo forschen sie? Unklar bleibt beispielsweise auch, wer die Zoologen sind, die annehmen, dass selbst kleine Populationen überlebensfähig seien (ein angesichts der späteren Ausführungen im Text nicht unwesentlicher Punkt). Woher stammt die Zahl, dass um das Jahr 1900 noch 100 000 Tiger durch Asien streiften? Auch ist es zwar eine weit verbreitete Annahme, dass die Tigerbestandteile vor allem in der traditionellen chinesischen Medizin landen, aber ob dies der Hauptgrund für die dramatischen Abnahme des Bestandes ist, ist je nach Quelle umstritten (siehe dazu auch „Pro und Contra“).

4.PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Auf den ersten Blick scheint das Kriterium erfüllt, da gegensätzliche Argumente der zwei erwähnten Studien wiedergegeben werden: In der älteren der beiden Fachveröffentlichungen plädieren die Forscher dafür, vor allem die größeren Tigerbestände in ihren Herkunftsorten zu schützen; von diesen aus könnten dann andere Regionen wiederbesiedelt werden („Zur ‚letzten Hoffnung‘ für Tiger wie Naturschützer wurden seitdem 42 (…) sogenannte ‚source sites‘ oder Herkunftsorte, auf die man die Schutzmaßnahmen zukünftig konzentrieren will.“). Die aktuelle Fachpublikation von 2013 betont dagegen vor allem die Gefahr einer genetischen Verarmung, wenn die einzelnen Populationen in den verschiedenen „source sites“ voneinander isoliert bleiben und der Schutz kleiner Bestände vernachlässigt werde („Die Fragmentierung der letzten Lebensräume des Tigers in Indien hat somit auch zu einer Art Verinselung der genetischen Vielfalt geführt, gleichsam zu Inzuchtlinien….“).

Teils erscheint der Widerspruch jedoch konstruiert, denn auch die Autoren der älteren Fachveröffentlichung erkennen an, dass es das langfristige Ziel sein muss, großflächig eine Vielzahl von Lebensräumen für den Tiger zu erhalten und die Bestände zu zu vernetzten. Welche Auswirkungen die aktuelle Studie auf Schutzkonzepte haben könnte und welche Probleme damit verbunden wären (mehr Schutzgebiete mit wenigen Tieren müssten besser überwacht und finanziert werden), erfahren Leserinnen und Leser nicht.

Auch andere im Beitrag angesprochene Aspekte sind strittig, ohne dass der Artikel dies deutlich macht. Veröffentlichungen in Indien und internationaler NGOs gehen beispielsweise davon aus, dass das massive Töten der indischen Tiger von der zweiten Hälfte der 1990er Jahre an bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts nicht in erster Linie der traditionellen chinesischen Medizin anzulasten ist – wie im Artikel behauptet – , sondern vor allem dazu diente, den gestiegenen Bedarf an Tigerfellen für wohlhabende Tibeter zu befriedigen. Mehr Infos dazu z.B.  hier und hier.

Insgesamt wird zwar eine Vielfalt von kontroversen Aspekten angesprochen, Leserinnen und Leser können sich jedoch mangels ausreichender Informationen kaum ein differenziertes Bild von den Auseinandersetzungen machen, daher werten wir „nicht erfüllt“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Artikel beruht offensichtlich nicht oder nicht allein auf einer Pressemitteilung zur aktuellen Fachveröffentlichung. Er bezieht eine weitere Publikation aus dem Jahr 2010 ein und bemüht sich um eine Gesamtschau des vorhandenen Wissens über die Bedrohung des Tigers und der Erfolgsaussichten von Schutzmaßnahmen.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es handelt sich hier um eine detaillierte Beschreibung der Situation der Tigerpopulationen im Laufe der Geschichte. Dabei wird deutlich, dass die Bedrohung der Tiger seit vielen Jahrzehnten besteht. Ein konkreter Zeitpunkt, ab wann der Rückgang zum Problem für den Fortbestand der Art wurde, ist kaum definierbar, daher sind dafür die eher allgemeinen Zahlen zum Schrumpfen der Bestände ausreichend.

7. Der Beitrag nennt – wo möglich – LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Der Text beschreibt zwar die Ursachen der dezimierten Bestände (Trophäenjagd, Wilderei, Verlust der Lebensräume). Die politischen Ansätze, die geeignet sein könnten, die Wilderei zu stoppen, oder Konflikte bei der Landnutzung zu lösen, bleiben aber außen vor. Statt dessen wird der Eindruck erweckt, als seien die Maßnahmen zum Schutz des Tigers ohnehin vergebens. Dabei verschweigt der Beitrag Erfolge, die in beiden Studien genannt werden. Dass sich in einzelnen Schutzgebieten die Zahl der Tiger dank verstärkter Schutzbemühungen etwas erhöhen konnte, wird ebenso wenig erwähnt wie die Tatsache, dass die Tigerzahlen in Indien in jüngster Zeit insgesamt leicht gestiegen sind. Auch wird nicht nachgefragt, welche Folgen die Maßnahmen seit der im Beitrag erwähnten Tiger-Konferenz in Russland hatten. Es wird so getan, als gäbe es keine Handlungsoptionen mehr. Zu kritisieren ist eine eurozentristische Sichtweise auf die Problematik, die die zahlreich vorhandenen Initiativen zum Schutz der Tiger in Asien als sinnlos abtut – ohne zum Beispiel den Wissenschaftlern der erwähnten Studien oder anderen Beteiligten vor Ort eine Stimme zu geben.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (global/lokal) wird dargestellt.

Die räumliche Dimension – wo die Tiger leben, wo sie bereits ausgestorben sind, und auch wohin die gewilderten Tigerprodukte verkauft werden – wird klar benannt. Außerdem wird das Schrumpfen der Lebensräume des Tigers deutlich, ebenso wie das Ausmaß der Schutzgebiete („Zusammengenommen umfassen diese letzten Bastionen gegen das Aussterben des Tigers nicht mehr als 100.000 Quadratkilometer; das sind weniger als 0,5 Prozent des historischen Verbreitungsgebietes und nur sechs Prozent des derzeitigen Vorkommens.“).

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Dieses Kriterium ist erfüllt, da der Artikel die zeitliche Entwicklung bei der Abnahme der Tigerbestände klar darlegt. Es wird deutlich, dass es sich hier nicht um ein kurzfristiges oder vorübergehendes Problem handelt, sondern um eines, das nur durch langfristige Entwicklungen zu erklären ist.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Der Artikel setzt die Daten über den Bestand der Tiger und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über ihre genetische Verarmung in einen größeren Kontext: Wirtschaftliche und kulturelle Gründe für die Wilderei werden genannt, ebenso die Kosten, die für den Schutz der Tiger aufzubringen sind. Dabei wird allerdings nicht hinterfragt, ob Kosten von „82“ bzw. „47 Millionen Dollar“ zum Schutz einer Art angesichts der wirtschaftlichen Probleme im Verbreitungsgebiet der Tiger (zu denen die ärmsten Regionen Asiens zählen) tatsächlich „erschwinglich“ sind. Gut wäre es gewesen, die Zahl zu anderen Ausgaben der betroffenen indischen Bundesstaaten ins Verhältnis zu setzen. Auch wird der Eindruck erweckt, als sei der Schutz von 100.000 Quadratkilometern – da dies nur 0,5 Prozent des historischen Verbreitungsgebietes ausmache – nicht besonders viel. Dabei entspricht dies fast einem Drittel der Fläche Deutschlands. Solche Vergleiche wären wichtig, um die Schwierigkeit der Aufgabe zu verdeutlichen. Allerdings fehlen derartige Zusammenhänge und Vergleiche auch in der Fachveröffentlichung. Das Kriterium ist daher noch „erfüllt“.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Der Artikel bezieht sich ohne Zweifel auf ein relevantes Problem und nimmt eine aktuelle Veröffentlichung zum Anlass für eine umfassende Betrachtung des Problems.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Recht gelungen scheint zunächst der szenische Einstieg mit einer Beobachtung im Naturkundemuseum, die die These vom bevorstehenden Aussterben des Tigers stützen soll. (Diese wird jedoch im Folgenden nicht belegt, siehe umweltjournalistisches  Kriterium 3 „Belege/ Evidenz“.) Ansonsten fehlen journalistische Stilmittel, die das Thema für die Leser zugänglicher machen könnten – keine journalistische Lebendigkeit, keine Debatte, keine wirkliche Konfrontation. Unbelegte Behauptungen werden aneinander gereiht, ohne sie einem Diskurs auszusetzen.

Zudem zerfällt der Artikel in Abschnitte, die kaum miteinander verbunden werden. Statt einer spannenden wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der Tiger-Konferenz 2010 und ihren Folgen angesichts der neuen Erkenntnisse über die genetische Verarmung zerfasert der Beitrag im letzten Drittel in eine dazu eher unerhebliche Betrachtung der Evolutionsgeschichte des Tigers und seiner Unterarten. Spätestens hier dominiert auch eine leserunfreundliche Fachsprache.

Der Autor hinterfragt die vorgestellten Ergebnisse nicht mit journalistischer Distanz, sondern nimmt die Erzählhaltung eines scheinbar allwissenden Experten ein, der prophezeit, dass der Tiger unweigerlich aussterben werde. Dabei wiederholt der Artikel über weite Strecken Altbekanntes und reiht sich ein in eine Berichterstattung, die Artenschutzbemühungen als letztendlich vergeblich abtut.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Der Artikel gibt eine ganze Reihe von Details der erwähnten Studien korrekt wieder und liefert eine Fülle von Informationen, wenngleich diese oft mangels Quellenangabe nicht ohne weiteres überprüfbar sind. Die Auswahl der Fakten erscheint zudem einseitig, wie bereits bei den umweltjournalistischen Kriterien dargelegt. Als konkreter Faktenfehler fällt nur ein wiederholter Schreibfehler beim Artnamen auf: Der „Panthera trigris“ heißt korrekt „Panthera tigris“. Dies ist jedoch für den Inhalt des Beitrags unerheblich, wir werten daher „erfüllt“.

Umweltjournalistische Kriterien: 5 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar