Die Kriterien
Auf dieser Seite finden Sie die Bewertungskriterien, die im MEDIATE-Projekt angewendet wurden. Seitdem haben wir unsere Kriterien überarbeitet. Eine aktuelle Übersicht der Kriterien des Medien-Doktor GESUNDHEIT, Medien-Doktor ERNÄHRUNG und Medien-Doktor UMWELT können Sie hier als pdf herunterladen.
Bewertete Beiträge
Im Rahmen des MEDIATE-Projekts wurden ausgewählte journalistische Beiträge (mehr als 200 Wörter) aus Publikumsmedien bewertet, bei denen im Zentrum der Berichterstattung (d. h. in mehr als 50 Prozent des Beitrags) ein diagnostischer Test steht. Exemplarisch wurden Beiträge über nicht-invasive Pränataldiagnostik und über HIV-Selbsttests bewertet. Die nachfolgenden Kriterien sollen Journalisten und Journalistinnen als Leitfaden für die Berichterstattung über diagnostische Tests dienen. Sie sollen dabei helfen, die zu diesem Zeitpunkt verfügbaren Informationen zu einem Thema innerhalb der Möglichkeiten der jeweiligen Redaktion möglichst sorgfältig aufzubereiten.
Medizinjournalistische Kriterien
1. Aussagekraft/ Nutzen
Wie ist der Nutzen einer Behandlungsart/eines Produkts oder eines Verfahrens oder die Aussagekraft eines Tests/dargestellt?
Es wird erwartet, dass ein Journalist eine quantitative Einschätzung des Nutzens einer neuen Behandlungsart abgibt. Es ist wichtig, dass diese Informationen genau und in einer Art und Weise vermittelt werden, die Lesern den wirklichen Wert/Nutzen einer Behandlung erklären.
Die Aussagekraft eines diagnostischen Verfahrens muss mit Angaben zur Sensitivität und Spezifität erklärt werden. Eine Wert reicht nicht aus, um diese darzustellen. Fehlt ein Wert, muss erläutert werden, warum diese Angaben fehlen und deutlich gemacht werden, da in einem solchen Fall die Testgüte nicht hinreichend ermittelt werden kann.
Umfragen haben ergeben, dass Journalisten dazu neigen, den Nutzen als relative Senkung der Häufigkeit eines schlechten Verlaufs darzustellen, so wie er oft auch in Studien dargestellt wird. Zum Beispiel: Sinkt durch eine Behandlung das Risiko einer Hüftfraktur von zwei Prozent auf ein Prozent, würde dies als eine Halbierung oder ein Absenken des Risikos um fünfzig Prozent berichtet.
In solchen Fällen besteht die journalistische Leistung darin, den Nutzen in einer Senkung des absoluten Risikos darzustellen (dazu gehört auch zu berichten, wie das Risiko mit und ohne Behandlung ausfällt). Oder er wählt eine abgeleitete Variable wie Number Needed to Treat (NNT, Zahl der zu behandelnden Fälle für eine Heilung).
Manchmal, z. B. in unkontrollierten Fallserien, kann es sein, dass es keine vergleichbaren Daten gibt, dann wird dies als „nicht anwendbar“ gewertet.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass ein Beitrag nicht den Eindruck erweckt, dass ein Nutzen kleiner oder größer dargestellt wird als es durch die Quelle (z. B. die Studie) gedeckt wird.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- möglicher Nutzen überhaupt nicht quantifiziert wird.
- die Aussagekraft nicht quantifiziert wird
- die Aussagekraft nur durch einen Wert dargestellt wird
- nur relative, nicht absolute Risiken- und Nutzenangaben gemacht werden.
- sich zu sehr auf positive Erlebnisberichte von Patienten verlassen wird, die nicht repräsentativ sein müssen.
- Statistiken angemessen zitiert werden, aber die ganze Geschichte durch eine einzige unwidersprochene, übertriebene Aussage völlig unausgewogen wird.
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Ist der Nutzen wirklich so bedeutend oder unbedeutend, wie er dargestellt wird?
2. Risiken und Nebenwirkungen
Werden bzw. wie werden Risiken und Nebenwirkungen dargestellt?
Ein Journalist sollte immer auf mögliche Nebenwirkungen eines neuen Verfahrens oder einer Behandlungsart eingehen. Im Idealfall beschreibt er sowohl die Häufigkeit als auch den Schweregrad der Nebenwirkungen einer Behandlung. Manche so genannten leichteren Nebenwirkungen können dramatische Auswirkungen auf das Leben eines einzelnen Menschen haben. Eine ausgewogene Berichterstattung sollte selbst unbedeutende Nebenwirkungen in Betracht ziehen.
Bei der Berichterstattung über diagnostische Tests muss auf die Möglichkeit falsch-positiver und falsch negativer Testergebnisse hingewiesen werden.
Entsteht der Eindruck, eine Geschichte spielt die möglichen Schäden einer Behandlung herunter, ist dieses Kriterium in diesem Artikel mit einem „nicht erfüllt“ zu bewerten. Auch wenn es keinen Versuch gibt, mögliche Schäden, die in einer Studie auftauchen, zu quantifizieren, würde dies zu einem „nicht erfüllt“ führen. Anekdoten von Patienten reichen nicht aus.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass ein Beitrag nicht den Eindruck erweckt, dass Risiken und Nebenwirkungen kleiner oder größer dargestellt werden, als sie durch Quellen (z. B. Studien) gedeckt sind.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z.B. …
- mögliche Nebenwirkungen nicht erwähnt werden.
- mögliche Nebenwirkungen nicht quantifiziert werden.
- nicht auf die Möglichkeit falsch-positiver und falsch-negativer Testergebnisse hingewiesen wird.
- der Schweregrad möglicher Schäden nicht beschrieben wird.
- vermeintlich unbedeutende Nebenwirkungen nicht berücksichtigt werden, die einen beträchtlichen Einfluss auf das Leben eines Patienten haben könnten.
- sich zu sehr auf Anekdoten von Patienten verlassen wird (v. a., wenn es um die Sicherheit geht.)
- sich zu sehr auf den Kommentar des untersuchenden Mediziners verlassen wird, dass ein Verfahren sicher ist – ohne dass es unterstützende Daten gibt.
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Welche Risiken und Nebenwirkungen hat dieses Verfahren oder das Produkt?
3. Belege
Versucht die Geschichte die Qualität der Belege/der Evidenz einzuordnen?
Es wird erwartet, dass ein Journalist Informationen über die Qualität der klinischen Belege liefert, auf denen die Behauptungen beruhen. Im Fall einer wichtigen Aussage über die Wirksamkeit einer neuen Behandlungsart sollte diese auf den Ergebnissen einer randomisierten Studie mit relevanten klinischen Endpunkten beruhen.
Manchmal wird in einem ersten Beitrag über eine neue Behandlungsart von „vielversprechenden“ Ergebnisse einer Fallserie (case series) berichtet (also einer Art von Studien mit niedriger Evidenz(Beweiskraft)). Es ist an sich nichts falsch daran, darüber zu schreiben, aber die Geschichte sollte die Grenzen/Einschränkungen dieses Studiendesigns klar machen und darauf hinweisen, wie schwierig eine Interpretation solcher unkontrollierten Studien ist.
Zum Beispiel sollte in einem Artikel über eine nicht-randomisierte Kohorten- oder Beobachtungsstudie erklärt werden, dass die Mediziner nicht in der Lage waren, alle Faktoren, die vielleicht einen beobachteten Unterschied erklären könnten, berücksichtigen werden können.
Die abgestufte Aussagekraft von Studiendesigns (engl.: hierarchy of evidence) ist ein wichtiger Faktor, den Journalisten berücksichtigen müssen und Lesern und Zuschauern erklären sollten.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z.B. …
- es nicht gelingt, die Grenzen des Studiendesigns herauszustellen.
- ein Hinweis fehlt, dass man bei der Interpretation von unkontrollierten Daten Vorsicht walten lassen muss.
- kausale Zusammenhänge dargestellt werden, die ein Studiendesign nicht zulassen.
- nicht klargestellt wird, wo die Grenzen kleiner Studien liegen.
- nicht darauf hingewiesen wird, dass der primäre Endpunkt nur ein Surrogatmarker ist oder nicht davor warnt, dass der Leser dies nicht einfach übertragen kann auf für ihn relevante Gesundheitsaspekte (real health outcomes).
- nicht herausgestellt wird, dass es bei Ergebnissen, die auf Konferenzen präsentiert werden, nur eine eingeschränkte/schlechte Begutachtung (peer review) gibt.
- Ergebnisse aus Tierversuchen oder Laborexperimenten präsentiert werden, ohne den Leser/Hörer/Zuschauer darauf hinzuweisen, dass diese nur eingeschränkt auf die menschliche Gesundheit übertragbar sind.
- Anekdoten als Belege für Nebenwirkungen oder den Nutzen einer Behandlung präsentiert werden – anstatt sie als Beispiele für Einzelfälle der Nutzung zu präsentieren.
Der Bereich „Qualität der Belege“ kann auch in der „Unser Review“-Kommentar-Zusammenfassung aufgegriffen werden, um die Frage aufzuwerfen, ob diese Geschichte überhaupt hätte veröffentlicht werden sollen.
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Kann man mit einem solchen Studienaufbau überhaupt diese Aussagen machen?
4. Experten
Gibt es eine weitere Quelle und wurden im Artikel irgendwelche Interessenkonflikte offengelegt?
Für eine zufriedenstellende Bewertung dieses Kriteriums müssen zwei Dinge erfüllt sein: Es muss eine weitere (unabhängige) Quelle (Experte) zitiert werden/zu Wort kommen (jemand, der nicht direkt an der Forschung beteiligt war), und es muss bis zu einem gewissen Grad der Versuch unternommen werden, die Leser über mögliche Interessenkonflikte zu informieren.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- nicht klar wird, was die Ausgangsquelle einer Geschichte ist (Pressemitteilung, Fachartikel, Editorial, Konferenzbeitrag etc.) und nicht öffentlich gemacht wird, in welchem Grad die Quelle Interessenkonflikte hat (z. B. „Ein PR-Berater des Unternehmens sagte …“ oder „Dr. Schmidt, der Forschungsgelder von der Firma erhielt, um die Studie durchzuführen, meinte …“).
- es nicht gelingt, einen vertrauensvollen, (unabhängigen) Experten aus diesem Gebiet einzubringen, der die Behauptungen kommentiert. (Idealerweise sollte man mehrere solcher Quellen nutzen).
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Wie unabhängig sind die Informationen und wie plausibel ist die Expertise?
5. Mehr als Pressemitteilung
Basiert der Beitrag ausschließlich oder überwiegend auf einer Pressemitteilung?
Es ist einfach keine gute journalistische Praxis, Material direkt aus einer Pressemitteilung zu übernehmen, ohne im Text darauf zu verweisen. Gibt es zum Thema eines Beitrags eine Pressemitteilung, wird sie zusammen mit dem Beitrag begutachtet, um zu überprüfen, wie eng sich ein Beitrag an die Pressemitteilung hält.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z.B. …
- klare Belege dafür vorhanden sind, dass „Wording“ aus einer Pressemitteilung übernommen wurde.
(Ist keine Pressemitteilung auffindbar, kann eine Geschichte auch als „nicht anwendbar“ bewertet werden.)
(Bei einer Story, die mehrere unabhängige Quellen hat, kann davon ausgegangen werden, dass sie NICHT allein auf einer Pressemitteilung beruht, und kann daher mit „erfüllt“ bewerten werden.)
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Stammen die Informationen, die ich bekomme, nur aus der Pressemitteilung?
6. Neuheit
Macht der Beitrag klar, wie neu ein Ansatz wirklich ist?
Viele angeblich neue Behandlungsarten/Tests/Produkte oder Verfahren sind nicht wirklich neu. Der Wirkstoff könnte ein weiteres Mitglied einer etablierten therapeutischen Klasse von Medikamenten sein.
Auch wenn er eine neue Klasse repräsentiert, bietet er vielleicht nicht mehr als die bereits verbreiteten Mittel. In der Pressemitteilung für ein neues Medikament ist diese wichtige Information vielleicht im Hype „verloren gegangen“ und das Mittel wird als Neuigkeit vorgestellt, um den ersten Verkauf anzukurbeln.
Autoren sollten eine aufschlussreiche Aussage in ihrem Beitrag darüber machen, wie neu ein neues Produkt wirklich ist, indem z. B. darauf verwiesen wird, dass es z. B. bereits ältere Studien mit dieser Substanz für diese Indikation gibt.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- ungenaue, unvollständige oder in die Irre führende Angaben zur Neuigkeit eines Verfahrens oder Produktes gemacht werden.
- nicht erklärt wird, was das eigentlich Neue an dem neuen Verfahren ist (am besten im Vergleich zu existierenden Alternativen auf dem Markt).
- Eine Off-Label-Verwendung beschrieben wird, aber nicht darauf hingewiesen wird, dass es tatsächlich eine Verwendung abseits der Zulassung ist.
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Ist das Verfahren/das Produkt ein wirklich neuer Ansatz?
7. Alternativen
Werden alternative Optionen für die vorgestellte Behandlungsart/Test/Produkt/Verfahren erwähnt?
Ein Artikel sollte die Idee, um die es geht, in einen Zusammenhang mit bestehenden Alternativen stellen. Es sollte die Verfügbarkeit alternativer Verfahren mit einer Einschätzung ihres Nutzens verglichen werden. Ist die Behandlung von Grund auf neu, dann sollte der Journalist erwähnen, dass es keine alternativen Behandlungsformen gibt, oder das es bisher nur unterstützende oder die Symptome lindernde Versorgung gab.
Es sollte auch nicht vergessen werden, dass „nichts zu tun“ ebenfalls eine Alternative sein kann.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
ein chirurgischer Eingriff besprochen wird, ohne auf nicht-chirurgische Alternativen zu verweisen.
ein neuer Test vorgestellt wird, ohne auf alternative Tests zu verweisen, inklusive der Option im Fall eines Screening-Tests, dass man auch darauf verzichten kann.
es nicht gelingt, Vor- und Nachteile einer neuen Idee im Vergleich zu bestehenden Verfahren zu diskutieren.
nicht dargestellt wird, wie die neue Behandlungsart/Test/Produkt/Verfahren in die gesamte Landschaft der bestehenden Alternativen passt.
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Gibt es außer diesem Verfahren/Mittel noch andere Behandlungsmöglichkeiten?
8. Verfügbarkeit
Wie ist die Verfügbarkeit einer Behandlungsart/Tests/Produkts/Verfahrens?
Dieses Kriterium wird meistens Anwendung finden bei der Berichterstattung über ein neues Medikament in klinischen Studien (oder einer Studie über eine neue Verwendung eines bereits etablierten Medikaments). Ein Journalist sollte seinen Lesern/Zuhörern/Zuschauern Informationen darüber liefern, in welcher Phase der Erforschung das Medikament/der Wirkstoff sich befindet (z. B. Pilotstudie oder kurz vor der Zulassung)
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
nicht klar wird, dass eine Arznei derzeit nicht verfügbar ist.
eine Zulassung eines Medikaments als abgeschlossene Sache behandelt wird.
zu spekulative Vorhersagen darüber gemacht werden, wann das Medikament zugelassen werden „könnte“ oder „sollte“ und wann es auf dem Markt sein sollte.
Vorhersagen über einen Zeitrahmen einer künftigen Verfügbarkeit gemacht werden, die nur auf Angaben eines Firmensprechers als Quelle beruhen.
es nicht gelingt, eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie verbreitet der Einsatz einer Anwendung ist (an jedem Krankenhaus oder nur Spezialkliniken?).
es nicht gelingt abzuhandeln, wie verfügbar zum Beispiel darauf spezialisierte/ausgebildete Personen sind (wenn es z. B. um spezielle chirurgische Eingriffe geht).
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Kann ich das Mittel jetzt bekommen oder nicht?
9. Kosten
Werden Kosten – und wenn ja – wie werden Kosten in der Geschichte angesprochen?
Journalisten sollten angemessen über die wahrscheinlichen Kosten eines neuen Verfahrens, eines Tests oder eines Produktes für den Einzelnen oder die Gemeinschaft berichten. Der Preis wird sehr wahrscheinlich zum Zeitpunkt des Markteintritts bekannt sein, obwohl neue Verfahren schwieriger zu kalkulieren sein können. Journalisten sollten eine Schätzung von ihrer Quelle/ihrem Experten bekommen können.
Die Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- die Kosten eines Verfahrens überhaupt nicht angesprochen werden.
- Kosten ohne befriedigende Erklärung heruntergespielt werden.
- die Kosten eines neuen Verfahrens nicht mit existierenden Alternativen verglichen werden (teurer/billiger).
- nicht auf die Möglichkeit eingegangen wird, ob ein neues Verfahren von der Krankenkasse bezahlt wird.
Ein „nicht anwendbar“ könnte in folgenden Fällen angemessen sein, wenn z. B. …
- die von Geschichte von einem experimentellen Verfahren handelt, dass in einer frühen Phase der Entwicklung ist und es keine Kosten genannt werden. (Das ist eine Einschätzungssache.)
- der Gutachter der Meinung ist, dass eine Besprechung der Kosten relativ unwichtig ist (z. B. bei Dingen, deren Kosten den meisten Menschen mehr oder weniger bekannt sind, wie z. B. Aspirin oder Abnehmmittel).
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Zahlt das meine Krankenkasse oder wie viel muss ich selbst bezahlen?
10. Krankheitserfindungen
Gibt es Anzeichen für „Disease mongering“ (Krankheitserfindungen/-übertreibungen)?
Dieser Punkt versucht herauszuarbeiten, ob in einem Beitrag eine Sache übertrieben wird. Es gibt verschiedene Formen der „Übertreibung“ (mongering):
- Risikofaktoren werden als Krankheit behandelt (z. B. geringe Knochendichte wird zu Osteoporose);
- falsche/ungenaue Darstellung des natürlichen Verlaufs und/oder der Schwere einer Erkrankung (z. B. Prostatakrebs in einem frühen Stadium und einem niedrigen Grad).
- Medikalisierung geringer oder kurzfristiger Schwankungen einer Funktion (z. B. zeitweise Potenzprobleme bei Männern oder sexuelle Unlust bei Frauen).
- Medikalisierung normaler Zustände/Stadien (Haarausfall, Falten, Schüchternheit, Menopause).
- Übertreibung der Häufigkeit einer Krankheit/Störung (z. B. in dem man Bewertungsskalen (‚rating scales‘) nutzt, um Erektyle Dysfunktion zu diagnostizieren).
Ein Beitrag kann durchaus mehr als eines der Beispiele von Übertreibungen enthalten.
Eine Krankheitserfindung zu erkennen ist eine Einschätzungssache. Manchmal ist es offensichtlich. Aber wie entscheiden Sie, ob Beschwerden wie Reizdarmsyndrom, Erektile Dysfunktion, Unruhige Beine oder Osteoporose (die für einige Betroffene ernsthafte Probleme sind) im Artikel falsch oder unverhältnismäßig dargestellt werden?
Die Wertung könnte „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- mangelhafte Statistiken präsentiert werden.
- die Folgen für eine Person übertrieben werden.
- unangemessen Angst geschürt wird.
- Surrogatmarker-Endpunkte behandelt werden als wären sie die Krankheit (z. B. Laborwerte).
- Interviews mit „worst case“-Patienten enthalten sind – und der Eindruck erweckt wird, ihre Erfahrung sei repräsentativ für alle mit dieser Erkrankung.
Dieses Kriterium findet keine Anwendung in Fällen, in denen der Gutachter das Gefühl hat, eine Therapie/ein Verfahren/ein Test oder ein Mittel würde übertrieben positiv angepriesen. Mt diesem Kriterium bewerten wir kein „Treatment-Mongering“. Kommentare dazu gehören eher in den Kriteriumsbereich „Quantifizierung des Nutzens“ oder „Qualität der Belege“.
Wichtige Frage, die für den Leser zu klären wäre:
Ist das eine Krankheit/ein Phänomen, über die/das ich mir wirklich Sorgen machen muss?
Allgemeinjournalistische Kriterien
1. Themenauswahl
Gelingt es im Beitrag, ein Thema durch eine attraktive Darstellung zu vermitteln?
Bei der Themenauswahl spielen Faktoren wie Anlass und Aktualität (dem Erscheinungsrhythmus des Mediums angemessen), Relevanz oder Originalität (bzw. Kuriosität) eine Rolle.
Ein Beitrag ist relevant, wenn er ein Thema behandelt, das einen großen Teil der Bevölkerung direkt oder indirekt betrifft. Dies kann zum Beispiel gegeben sein durch: eine große Anzahl Betroffener, erhebliche Kosten für eine neue Therapie (und damit für das Gesundheitssystem insgesamt) o. ä., ethische Bedeutung einer neuen Entwicklung, aktuelle politische Relevanz oder die Beispielhaftigkeit („Modellcharakter“) auch einer – für sich genommen kleinen – Entwicklung.
Auch wenn ein Thema nicht relevant erscheint, kann ein Beitrag dennoch durch eine besonders originelle Themenauswahl überzeugen, weil es kurios, humorvoll, überraschend etc. ist.
Außerdem wird hier bewertet, ob der Beitrag eine seinem Medium angemessene Aktualität besitzt und diese für den Leser dann auch deutlich macht (z. B. durch Formulierungen wie „Ergebnisse, die heute/gestern/diese Woche in einem Fachmagazin/auf einer Konferenz veröffentlicht wurde.“ oder „ … Ergebnisse, die im Anschluss der gestrigen Debatte im Gesundheitsausschuss des Bundestages bekannt gegeben wurden …“).
Sollte das Thema eines Beitrags nicht aktuell sein, muss es relevant sein. Ist es nicht relevant, muss es kurios/originell sein.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- ein Thema nur für enge Fachkreise von Bedeutung ist, dann spielt auch Aktualität keine Rolle.
- ein Thema nicht aktuell, nicht relevant und auch nicht originell bzw. kurios/überraschend ist und überhaupt nicht klar wird, warum das Thema gerade jetzt thematisiert wird.
- der aktuelle Bezug konstruiert erscheint („Tag des XY“, die in der Regel von Interessenverbänden/Pharmafirmen festgesetzte Termine als Teil einer PR-Strategie sind, „Awareness-Kampagnen“). Ausnahme wären Tage, die eine echte Relevanz für die politische Agenda haben (z. B. Welt-Aids-Tag) und von anerkannten Institutionen festgelegt wurden (z. B. WHO).
- versucht wird, durch Zeitwörter Aktualität zu erzeugen, obwohl ein Thema veraltet ist (z. B. Tageszeitungsbeitrag: „wie die Forscher jetzt herausfinden“, das Ergebnis/der Anlass aber schon seit einem Monat bekannt/veröffentlicht ist). Auch dieses Kriterium orientiert sich am Veröffentlichungsrhythmus des Mediums.
- Relevanz und/oder Aktualität nur simuliert wird, etwa durch aktuelle firmengesponserte Umfragen im Zusammenhang mit „Awareness-Kampagnen“. (Achtung: Dieser Punkt könnte auch bei Disease mongering eine Rolle spielen.)
2. Vermittlung
Ist die journalistische Umsetzung des Themas gelungen oder sogar vorbildlich für das gewählte Format?
Dieses Kriterium ist „erfüllt“, wenn ein Beitrag verständlich ist, weil er klar strukturiert ist, angemessene Satzlängen verwendet, Fachbegriffe nur in Ausnahmefällen verwendet (und diese dann erläutert) und Zusammenhänge gut erklärt.
Zusätzlich zur Verständlichkeit spielen bei der Vermittlung aber auch weitere „Formfaktoren“ eine Rolle. Positiv fällt auf, wenn die Geschichte dramaturgischen Prinzipien folgt (Personalisierung, narrative Elemente, Bezug zur Alltagswelt etc.). Positiv finden wir auch, wenn Form und Inhalt harmonieren. Abstrakte Zusammenhänge z. B. Illustrationen, Fotos/geeigneten Bildern (TV) oder mit anschaulichen Textbeispielen verdeutlicht werden; gute O-Töne bei einem Radiobeitrag, Überschriften, Bilder und Illustrationen die Aussagen des Textes unterstützen, einfach alles das, was zum Lesen Hören und Anschauen einlädt.
Handelt es sich um einen nachrichtlichen Beitrag sollten die W-Fragen vollständig beantwortet werden. Generell gilt: Maßstab ist eine dem Format angemessenen Umsetzung.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- der Autor es nicht schafft, sich von der Abstraktheit eines Themas zu lösen.
- die Struktur wirr erscheint, logische Fehler auftreten
- Verständnis und Lesefluss durch Spaghettisätze über mehrer Zeilen und Schachtelsätze erschwert wird.
- Überschrift und Teaser übertrieben dramatisieren oder viel mehr versprechen als ein Studienergebnis tatsächlich hergibt.
- in einem nachrichtlichen Beitrag ein Teil der wesentlichen W-Fragen nicht beantwortet wird.
- ein Beitrag von unverständlichen oder irreführenden Bildern begleitet wird. Bei Grafiken ist z.B. auf die verwendeten Skalen, ungemessene Maßstäbe, oder Lücken in den dargestellten Daten zu achten.
3. Faktentreue (Richtigkeit)
Gibt der Beitrag die wesentlichen Fakten richtig wieder?
Bei diesem Kriterium geht es darum herauszufinden, ob ein Autor keine offensichtlichen, wesentlichen Fehler bei den Fakten macht. Gibt er also die Hauptaussage einer Studie bzw. die Ergebnisse, auf die er sich bezieht, richtig wieder?Beschreibt er Aufbau und Methode der Studie richtig (z. B. die Zahl der Probanden, die letztlich eingeschlossen wurden)?Richtigkeit ist hier weder gleichbedeutend mit objektiver Wahrheit noch mit Vollständigkeit – es müssen z. B. nicht alle Aspekte einer Studie beschrieben werden, doch die genannten Fakten müssen stimmen.
Ein einzelner Namenfehler reicht noch nicht, um einen Beitrag als „nicht erfüllt“ gelten zu lassen. Treten aber zusätzlich andere „kleinere“ Fehler auf und es entsteht der Eindruck von „schlampiger“ Arbeit, kann dies zur Wertung „nicht erfüllt“ führen.
Wertung kann „nicht erfüllt“ lauten, wenn z. B. …
- in der Studie Surrogatmarker (z. B. für Tumorrezidive) verwendet werden und im Beitrag steht, es wären Tumorrezidive gemessen worden.
- Überschriften und Teaser sich zu stark von der tatsächlichen Aussage des Beitrags entfernen.
der Beitrag Kausalzusammenhänge herstellt, wo die Daten nur Korrelationen belegen. - Daten offensichtlich falsch wiedergegeben werden.
- grobe, irreführende Übersetzungsfehler, die etwa bei Zitaten aus dem Englischen auftreten.