Krank, gesund, behindert – Wortklauberei?

Warum eine differenzierte und genaue Wortwahl in der Berichterstattung über Pränataldiagnostik besonders wichtig ist.

„Ist mein Kind gesund?“, „Bluttest erkennt Gendefekt“. Schlagzeilen wie diese gibt es seit vielen Jahren in den Medien, wenn es um Vorsorgeuntersuchungen in der Schwangerschaft geht. Die Debatte über diese Tests wird dabei auf vielen Ebenen geführt. Bei den ethischen Fragen scheint es jedoch einen besonderen Diskussionsbedarf zu geben.

Gerade den Medien kann in dieser öffentlichen Diskussion eine besondere Rolle zugeschrieben werden, denn sie prägen die Verwendung und Bedeutung von Zuschreibungen wie gesund, krank oder behindert, die auf den ersten Blick so eindeutig erscheinen. Dabei ist es ratsam in der Berichterstattung mit genau so viel Fingerspitzengefühl und bewussten Formulierungen zu berichten, wie es behandelnde Ärzte im Umgang mit werdenden Eltern tun.

In Bereichen wie der Berichterstattung über Minderheiten und Migration oder auch der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung wurden von verschiedenen Arbeitsgruppen bereits Leitfäden für Journalisten entwickelt.

Angelehnt an diese Leitfäden soll an dieser Stelle für eine fachlich richtige und ausgewogene Wortwahl sensibilisieren und Denkanstöße für den Umgang mit dem Thema Pränataldiagnostik, Behinderung und Krankheit geben.

Krank, gesund

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“ So definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff der Gesundheit. Betrachtet man jetzt die soziale Position von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft müssten sie sich mit dem Blick auf „soziales Wohlbefinden“ eher nicht gesund fühlen, denn sie haben mit strukturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen.

In den Medientipps des Medienprojektes Leidmedien.de  des Vereins Sozialhelden findet sich dazu folgende Veranschaulichung: Fragt man beispielsweise Menschen mit Down-Syndrom, so fühlen sie sich nicht krank, sondern gesund. Es sei denn, sie haben gerade einen Schnupfen oder ein ähnliches Leiden, von dem man genesen kann – genau, wie Menschen ohne Behinderung. Die soziale und strukturelle Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung hingegen spiegele sich schon im Begriff „Behinderung“ wider, wie dem Leitfaden zu entnehmen ist.

Generell ist es schwierig, Gesundheit allgemein zu definieren. Im Gegensatz zur WHO haben die gesetzlichen Krankenkassen in ihrer Definition auch einen wirtschaftlichen Aspekt verankert. Der Bundesverband der AOK weist auf die Definition der Sozialgerichte hin, laut denen eine Krankheit vorliegt, wenn der Körper- oder Geisteszustand eine Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit hervorruft. Im medizinischen Wörterbuch Pschyrembel wird Gesundheit als subjektive Empfindung definiert, die unabhängig von pathologischen Befunden existiert. Gesundheit wird auch mit der Bewältigung von Beeinträchtigungen assoziiert.

Auf Menschen mit Behinderung lassen sich all diese Definitionen von Krankheit und Gesundheit nur sehr bedingt anwenden. Eine komplette Zuweisung zu einem dieser Zustände wäre unvollständig. Dem entsprechend ist eine Überschrift wie „Ist mein Kind gesund?“ über einem Artikel, der sich fast ausschließlich mit dem Down-Syndrom als zu diagnostizierende Chromosomenanomalie beschäftigt, zu kurz gedacht und wertend. Das findet zum Beispiel auch. Sie ist Diplomjournalistin, an der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund tätig und beschäftig sich mit der digitalen Inklusion von Menschen mit Behinderung: „Das Gegenteil von gesund  ist krank, nicht behindert, sagt sie. „Das Gegenteil von behindert ist schlichtweg nicht behindert.“ Wichtig in der Begriffsdefinition des Wortes „behindert“ sei, dass die Behinderung vor allem durch die (Infra-)Struktur des Umfeldes entstehe und nicht aus dem Menschen heraus.

Behindert

In der UN-Behindertenrechtskonvention wird Behinderung in Artikel 1, Satz 2 definiert. Menschen sind demnach behindert, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.” Die WHO geht davon aus, dass fünfzehn Prozent der Weltbevölkerung eine Behinderung haben. Behinderung liegt laut WHO dann vor, wenn eine Person zu Schaden gekommen ist, und funktionale und soziale Beeinträchtigungen die Folge sind.

Der Begriff der Behinderung beschreibt demnach heute nicht mehr ein Defizit, das allein aus einem Menschen heraus entsteht. Vielmehr werden Menschen mit Behinderung durch Gesellschaft und strukturelle Aspekte buchstäblich von außen behindert. Gäbe es im öffentlichen Raum beispielsweise flächendeckend Barrierefreiheit, könnten Menschen, die im Rollstuhl sitzen ganz normal am öffentlichen Leben teilnehmen.

„Diese Denkweise ist auch der Grund, warum sich das Modell der Inklusion durchgesetzt hat“, sagt Annegret Haage. Im Gegensatz zur Integration, in der Menschen mit Behinderung als abgeschlossene Minderheit in der Gesellschaft gesehen werden, wolle die Inklusion diese Abgrenzung auflösen und das Zwei-Gruppen-Bild auflösen.

Im Leitfaden von Leidmedien.de ist zu entnehmen, dass Menschen mit Behinderung den Begriff behindert als wertfreie Beschreibung eines Merkmals ansehen. Haage bevorzugt dabei entweder „Mensch mit Behinderung“ oder „behinderter Mensch“. Letzteres sei aus Ihrer Erfahrung vollkommen in Ordnung. Nur „Behinderte“ möchte die Diplomjournalistin nicht mehr lesen: „Das schert die vielen verschiedenen Arten und Ausprägungen von Behinderungen über einen Kamm und anonymisiert die Personen.“

Normal

In einer Berichterstattung über Behinderung die Mehrheit der Menschen als normal und die die Minderheit als nicht normal zu beschreiben – Das findet Annegret Haage schwierig. Wenn von „besonderen“ Kindern die Rede ist, finden Behindertenverbände das schwammig: Die Grundbedürfnisse von Menschen mit Behinderung seien die gleichen wie die von Menschen ohne Behinderung. Alles, was darüber hinaus gehe, sei, unabhängig davon, ob mit oder ohne Behinderung, in gleichem Maße individuell und vielfältig.

„Als Journalist sollte man sich überlegen, ob man zu einer Gesellschaft beitragen möchte, die derart normativ zwischen „normal“ und „besonders“ unterscheidet“, findet Haage.

Generell können sich Journalisten für ihre Arbeit folgende Faustregel merken:

Das Gegenteil von gesund ist krank, nicht behindert.

Das Gegenteil von behindert ist nicht behindert, nicht normal.

NIPT, Downsyndrom-Test

Ein häufiges Thema in der Pränataldiagnostik und der Berichterstattung darüber ist der nicht-invasive Pränataltest (NIPT), weil zuletzt über die Kostenübernahme durch die Krankenkassen entschieden wurde. Entgegen der Darstellung vieler Medien erkennt dieser Test nicht nur das Down-Syndrom, also Trisomie 21. Er erkennt ebenso die Trisomien 13 und 18. Diese Chromosomen-Anomalien sind seltener, jedoch gravierender. Daher werden sie von der Fachwelt als nicht mit dem Leben vereinbar eingestuft und stellen werdende Eltern vor einen ganz anderen Konflikt. In den meisten Fällen müssen sie sich schon vor der Geburt von ihrem Kind verabschieden, da es entweder im Mutterleib oder wenige Wochen nach der Geburt verstirbt.

Ziel der Pränataldiagnostik ist es laut Mutterschaftsrichtlinien, Risikoschwangerschaften und Risikogeburten schnellstmöglich zu erkennen, um sich dann medizinisch und psychisch auf etwaige Komplikationen vorbereiten zu können. Denn auch wenn die Trisomie 21 grundsätzlich als mit dem Leben vereinbar gilt, wie es die meisten Ärzte ausdrücken, weisen Kinder bei der Geburt häufig einen Herzfehler auf. Dadurch kann zum Beispiel schon die Entbindung in einer dafür ausgestatteten Klinik vorteilhaft sein oder auch notwendig werden. Im weiteren Leben nach der Geburt können Eltern und Kind weiteren Assistenzbedarf haben, auf den man sich laut Behindertenverbänden ebenfalls gut vorbereiten könne.

Dabei ist der Begriff Assistenzbedarf dabei laut Diplomjournalistin Annegret Haage ein treffenderer Begriff als Pflegefall, der in manchen Fällen schlichtweg eine Übertreibung sei. Auch Leidfaden.de weist bei diesem Begriff auf die Reduktion von behinderten Menschen auf einen Pflegebedarf hin, der allumfassender scheint, als er im Einzelfall sein muss. So könne Assistenz auch „alltägliche Unterstützung sein, in der behinderte Menschen selbst Entscheidungen treffen können.“ Der Bedarf ist also, wie eine Behinderung selbst, sehr individuell.

Auch wenn viele Eltern den NIPT vor Allem wegen seiner recht zuverlässigen Diagnose des Down-Syndroms testen, ist die Testung auf Trisomie 21 nicht das Hauptziel dieses Tests. Findet die Berichterstattung ausschließlich über diese Anomalie statt, ist das fachlich falsch bzw. verkürzt dargestellt. Zudem kann die Fokussierung auf diese Trisomie bei werdenden Eltern den Eindruck erwecken, sie müssten das Ungeborene auf diese Chromosomenanomalie testen lassen und im Fall einer positiven Diagnose entsprechend entscheiden. Dr. Martina Rauchfuß, Fachärztin für Frauenheilkunde und psychosomatische Medizin, schreibt in einem Fachartikel „Beratung zu Pränataldiagnostik und eventueller Behinderung: medizinische Sicht“ aus dem Jahr 2001, dass die Tatsache, ein behindertes Kind in sich zu tragen, „in eklatanter Weise das Selbstwertgefühl der Frau“ verletze. „Sie hat das Empfinden, auf einem fundamentalen Gebiet weiblicher Kompetenz versagt zu haben.“ Häufig seien werdende Mütter ungleich ihrer Entscheidung über den Umgang mit der Diagnose von Schuldfragen und Schuldgefühlen betroffen.

Chromosomenanomalie, Gendefekt

Häufig findet man in journalistischen Texten über Pränataldiagnostik die Formulierung Gendefekt. Dieser Begriff ist, genau wie Chromosomenveränderung, eher umgangssprachlich, hilft aber den Ärzten in einem Beratungsgespräch bei der Erklärung für die Patienten, weiß Dr. Hoa Huu Phuc Nguyen, Lehrstuhlleitung der Abteilung für Humangenetik an der Ruhr-Universität Bochum. „Tatsächlich verwenden wir Ärzte die Begriffe Genmutation oder Chromosomenanomalie. Aber um den Patienten es z.B. im Rahmen einer genetischen Beratung umgangssprachlich zu erklären, benutzen wir auch manchmal den Begriff Genveränderung oder auch Gendefekt“, sagt Nguyen.

Gendefekt kann, wie auch Dr. Annegret Haage findet, einen negativen Eindruck vermitteln – als sei auch der Mensch, der daraus entsteht, defekt.

So vielfältig die Ausprägungen von Behinderungen sind, so vielfältig sind auch ihre Auslöser auf molekularer Ebene. Dem entsprechend findet sich für die am weitesten verbreiteten Syndrome, aus denen eine Behinderung resultiert, auch ein passender, fachlich präziser Begriff:

Chromosomenanomalie: Trisomie 21, sowie alle anderen Trisomien, zählt dabei zu dem Chromosomenanomalien, in der Fachsprache als Aneuploidie bezeichnet. Sie beschreiben Abweichungen in der Chromosomenzahl, die beim Menschen grundsätzlich 48 Chromosomen beträgt. Ein zusätzliches drittes Chromosom beispielsweise beim Chromosomenpaar Nummer 21, wird als Trisomie 21 beschrieben und äußert sich im Down-Syndrom.

Genmutation: Dieser Begriff bezieht sich nicht auf ganze Chromosomen, sondern auf einzelne Gene auf den Chromosomen. Dabei sind auf molekularer Ebene die Strukturen von Genen so verändert, dass sich das auch in Form einer Behinderung ausprägen kann. Mutationen im Erbgut müssen jedoch nicht angeboren sein. Sie passieren auch auf natürliche Weise durch Fehler in der Zellteilung und nehmen statistisch gesehen im Alter jedes Menschen zu. Ausschlaggebend ist immer, welcher Teil welches Gens Veränderungen unterworfen ist und wie sich diese Veränderung letztendlich auf die Funktionalität der Körperfunktionen auswirkt.

Angeborene Genmutationen führen dabei häufig zu sehr unterschiedlichen und heterogenen Behinderungen, die vor Allem mit Lernschwierigkeiten und kognitiver Leistungsschwierigkeiten zusammenhängen.

Gendefekt: Auch wenn dieser Begriff für manche Menschen, wie etwa für Annegret Haage eine eindeutige Wertung enthält, so sprechen Mediziner tatsächlich in bestimmten Fällen bewusst von Gendefekten, erklärt Nguyen: „Letztendlich kann die Art der Mutation tatsächlich zu einem Gendefekt führen, z.B. im Rahmen einer Stopp-Mutation oder nonsense-Mutation, dann wird z.B. die Boten-RNA abgebaut und das Protein gar nicht produziert. Das Gen wird also nicht normal abgelesen und exprimiert.“ Bedeutet: Das defekte Gen bleibt ohne Auswirkung.

Genetische Erkrankungen, bei denen das vorkommt, sind aber nicht etwa die Trisomien, sondern zum Beispiel das Usher-Syndrom, welches zu angeborener Taub-Blindheit führt, oder die Zystische Fibrose.

Strukturelle Aspekte

Besonders schwierig ist es, in der Berichterstattung, allen Aspekten der Pränataldiagnostik gerecht zu werden. In kurzen Formaten wie Meldungen oder Berichten ist dann eine präzise Wortwahl besonders wichtig. Aber auch längere Formate, in denen Experten und Betroffene zu Wort kommen, die in den kürzeren Artikeln keinen Platz gefunden haben, findet Haage wichtig: „Die Mischung macht’s. Die inhaltliche Ausgewogenheit kann ja auch durch ergänzende Schwerpunktartikel geleistet werden.“ Das könne die Wahrnehmung von Behinderung in der Bevölkerung auf ein neutrales und schlussendlich persönliches und individuelles Bild bringen, und Berührungsängste abbauen. Auch findet es Haage wichtig, in solchen Beiträgen behinderte Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen: „Warum wird immer nur über die betroffenen Personengruppen geredet, anstatt mit ihnen? Das führt nur zu einer weiteren Entfremdung, und muss nicht sein.“

Worauf  man auch achten sollte

Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Pränataldiagnostik muss sich ein Journalist fast zwangsläufig auch mit Behinderung auseinandersetzen. Für die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung finden sich, erstaunlich viele Parallelen zur Handreichung über Berichterstattung über politische und ethnologische Minderheiten.

Auch hier gilt: Verallgemeinerungen vermeiden. Besonders das klinische Bild des Down-Syndroms ist sehr variabel und resultiert in ganz unterschiedlichen Graden von Assistenzbedarf. Das komplexe Thema Pränataldiagnostik mit allen gesellschaftlich relevanten Themen sollte zudem nicht zwangsläufig in die gängigen Formate gepresst werden (siehe dazu auch strukturelle Aspekte).

Effekthascherei durch unpräzise Begrifflichkeiten, wie beispielsweise Gendefekt oder „Ist mein Kind gesund?“ haben eine Wirkung auf den Leser und beinhalten eine Wertung, derer sich ein Journalist bewusst sein sollte. Potenziell kann diese Wertung für alle werdenden Eltern eines Tages relevant werden und ein Druckgefühl aufbauen. Auch Menschen mit Behinderung, die Teil unserer Gesellschaft sind, wird diese Vorgehensweise nicht gerecht. In diesem Zusammenhang wäre eine verkürzte Darstellung von Behinderung als reine Belastung nicht wünschenswert, betont auch Leidmedien.de

Um das Thema auch für alle Menschen greifbar zu machen, wird beispielsweise das Reportageformat gewählt. Protagonisten können dann Menschen sein, die Erfahrungen mit Pränataldiagnostik gemacht haben. Aber auch in solchen Berichten wünscht sich Haage eine eindeutige Differenzierung: „Was individuelle, persönliche Erfahrung ist, und was nicht, sollte sprachlich eindeutig gekennzeichnet werden.“ Als positives Beispiel hierfür listet Leitmedien.de eine Doppelreportage auf Zeit Online.

In diesem Artikel werden zwei Familien beschrieben, die nach einer positiven Diagnose des Down-Syndroms verschiedene Entscheidungen treffen. Dadurch entstehe ein ungeschultes aber ausgewogenes Bild von den Konflikten, Bedenken und Reaktionen, denen sich werdende Eltern ausgesetzt fühlen können. Mit solcher Berichterstattung kann sich jeder ein eigenes, fundiertes Bild von einem Leben mit Behinderung und im nächsten Schritt auch über die eigene Entscheidung in Zusammenhang mit Pränataldiagnostik machen.

Links:

Tipps für Medien auf Leitmedien.de

„Wer darf leben?“, Doppelreportage auf Zeit Online